Expertenduell zu Finanzberatungsnorm „Mit DIN 77230 werden echte Lösungen nur hinausgeschoben“
Die seit Februar gültige DIN-Norm 77230 diene vor allem dazu, schärfere Regulierung von der Branche abzuwenden. Ihr eigentliches Ziel: ein Provisionsverbot zu verhindern. Es sind starke Thesen, mit denen Verbraucherschützer Niels Nauhauser in einem von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung organisierten Streitgespräch den Chef des Defino Instituts Klaus Möller konfrontiert.
Möller ist einer der Initiatoren, der die neue DIN-Norm mit auf den Weg gebracht hat. Die Idee hinter der Norm: Alle Verbraucher sollen nach den denselben Maßstäben beurteilt werden. In einer der Beratung vorgelagerten Analyse wird ein Bedarf an finanzieller Absicherung ermittelt – und zwar nach einem standardisierten Schema. „Es gibt vorrangige und nachgelagerte Themen“, erläutert Defino-Chef Möller das Konzept. Da sich Verbraucher mit begrenzten Finanzmitteln nicht alle Formen der finanziellen Absicherung leisten könnten, setze die Norm Prioritäten. „Der DIN-Standard soll sicherstellen, dass jeder – unabhängig vom Berater – eine gleiche individuelle Diagnose erhält.“
Den individuellen Kundenbedarf nach festen Regeln zu ermitteln, hält VZBW-Experte Nauhauser wiederum für zu kurz gegriffen: Die Bedarfe seien zu unterschiedlich. „Das Problem ist, dass die Verbraucherinteressen oft nicht berücksichtigt werden“, wirft der VZBW-Mann den Norm-Machern vor. In der hauseigenen Finanzvorsorge-Beratung der Verbraucherzentralen gehe man flexibler vor. „In der Untersuchung ermitteln wir, was der Verbraucher benötigt, dabei können auch Zielkonflikte zwischen verschiedenen Möglichkeiten und der begrenzten Liquidität Thema sein.“ Im zweiten Schritt würden Verbraucher über verschiedene Alternativen informiert und daraufhin die konkreten Schlussfolgerungen gezogen. „Die DIN-Norm regelt nur den ersten Schritt – und das nur zum Teil“, kritisiert Nauhauser.
„Provisionsvertrieb wird gefördert“
Der gewichtigste Vorwurf des Verbraucherschützers richtet sich jedoch nicht nur gegen die Norm, sondern gegen den klassischen Finanzvertrieb insgesamt: „Die Norm ist eingebettet in das bestehende System des Verkaufs gegen Provision“, so Nauhauser. Eine genormte Liste vermittele Kunden: „Hast du etwas nicht, kaufe es.“ Die nur scheinbar objektiv ermittelten Lücken nützten vor allem dem Vertrieb – „um sie mit Produkten zu stopfen“, formuliert es Nauhauser. „Warum zum Beispiel muss man das Berufsunfähigkeitsrisiko gegenüber der Altersvorsorge priorisieren?“, fragt der VZBW-Mann. Die Norm diene vor allem dem Erhalt des Status quo im Finanzvertrieb. „Ihre Hoffnung ist es, echte Lösungen weitere Jahre hinauszuschieben“, wirft Nauhauser Norm-Initiator Möller vor.
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Ein „Zerrbild der Norm“ und auch eines der gesamten Branche male Nauhauser aus, kontert Möller. Branchenvertreter mit unterschiedlichen Hintergründen hätten an der DIN-Norm mitgewirkt. So seien die Empfehlungen nicht an das spezifische Geschäftsfeld eines Beraters gebunden. Ein Versicherungsspezialist halte also nicht mehr nur Ausschau nach passenden Policen und ein Finanzexperte nicht nur nach Anlageprodukten.
Nauhauser äußert schließlich auch Bedenken hinsichtlich der Umsetzung der Norm in die Praxis. Niemand kontrolliere, ob Berater die DIN 77230 korrekt anwendeten. „Das Wettbewerbsrecht sorgt dafür, dass man gegenseitig aufeinander aufpasst“, argumentiert Möller. Wer selbst die Regeln befolge und sehe, dass andere ausscherten, werde sich das nicht gefallen lasse.