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Interview mit Rob Almeida „Viele Marktteilnehmer sehen die Gefahren nicht“

Rob Almeida
Rob Almeida: „Das billige Geld der Notenbanken führte zu kurzlebigen Unternehmensgewinnen.“ | Foto: MFS Investment Management

DAS INVESTMENT: Herr Almeida, bei der Analyse der Märkte gilt es Ihrer Meinung nach in jedem Fall genau hinzuschauen. Viele Analysten ziehen indes historische Durchschnittswerte heran, um zu Einschätzungen über die Zukunft zu kommen. Wo hakt dieser Ansatz?

Rob Almeida: Der Durchschnitt ist der Mittelwert oder typische Wert einer Zeitreihe. Er sagt aber nichts über die Streuung aus. Stellen Sie sich zwei Städte mit einer Jahresdurchschnittstemperatur von etwa 20°C vor. Die eine liegt in einer Zone mit recht stabilem Klima, die andere in einer Region mit sehr unterschiedlich ausgeprägten Jahreszeiten. Der Durchschnitt verbirgt da mehr, als er erklärt. Man braucht zusätzliche Daten: Erst dann kann man entscheiden, zu welchem Zeitpunkt ein Aufenthalt in beiden Städten besonders lohnt.

Die simple Durchschnittsbildung bringt nicht weiter. Auch an den Märkten gilt: Jede Verlustphase, jede Finanzkrise und jede Rezession hat ein jeweils eigenes Gepräge.

Eines aber ist im Konjunkturzyklus immer gleich: Rezessionen beenden Übertreibungen, oder?

Almeida: In der Tat. Konjunktur- und Marktzyklen enden nicht deshalb, weil sie in die Jahre gekommen sind. Sie enden, weil Übertreibungen an den Märkten beseitigt werden, durch eine Finanzkrise oder Rezession. Überinvestitionen werden dadurch – oft schmerzhaft – korrigiert, in der Realwirtschaft wie an den Finanzmärkten. Die Länge des Konjunkturzyklus spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist das Ausmaß der Übertreibungen – davon hängt ab, wie stark die Korrektur ausfällt. Der Grad der Übertreibung bestimmt zugleich, wie lange es bergab geht.

Wenn man wissen will, wie tief eine Rezession reichen und wie lange sie dauern kann, hilft dann aber doch der Blick in die Vergangenheit?

Almeida: Um frühere Übertreibungen besser zu verstehen, muss man sich jeweils einfach nur die damaligen Lieblingskunden der Wall Street ansehen. In den 1990er-Jahren waren es die Dotcom–Highflyer, also Unternehmen, die irgendetwas mit dem gehypten Internet zu tun hatten und dazu Kapital brauchten. An ihnen verdienten die Investmentbanken am meisten. In den 2000ern tummelten sich Finanzinstitute auf der Suche nach höherer Rendite ohne zusätzliches Risiko an der Wall Street. Sie kauften massenweise Mortgage-Backed Securities, gebündelte Hypothekenkredite, die zuvor an US-Immobilienbesitzer ausgereicht worden waren, die aber letztlich nicht fähig oder willens waren, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen.

Anders gefragt: Nach der Dotcom-Blase und nach der Finanzkrise dauerte es lange, bis sich die Märkte wieder erholten. Sollte das auch bei der wahrscheinlich bevorstehenden Rezession der Fall sein, weil gleich mehrere Krisen auf einmal die Märkte in die Mangel nehmen?

Almeida: Wie lange es nach der Internet- oder Immobilienblase bis zur Erholung der Wirtschaft dauerte, sagt nichts über den Charakter der nächsten Rezession aus. Unterschiedliche Ungleichgewichte erfordern unterschiedliche Korrekturen. Wie stark der S&P 500 oder der MSCI EAFE, ein Aktienindex, der allgemein als Benchmark für die wichtigsten internationalen Aktienmärkte verwendet wird, damals gefallen sind, ist heute irrelevant. Entscheidend ist vielmehr, wie schnell es der Realwirtschaft und den Finanzmärkten gelingt, die entstandenen Übertreibungen am Markt, die zu einer Rezession führen können, wieder abzubauen.

Hier bietet sich die nächste Frage an: Was sind die Übertreibungen von heute?

Almeida: In den 2010er-Jahren reagierte die Geldpolitik auf schwaches Wachstum und Deflationsrisiken mit Quantitative Easing. Die Notenbanken gingen davon aus, dass dann mehr investiert würde und die Unternehmen mit dem Geld produktive Aktivitäten anschieben würden. Aber es kam anders: Die nahezu unendliche Liquidität signalisierte schwache Wachstumsperspektiven. So investierten die Unternehmen kaum, sondern leiteten das zu billigsten Konditionen geliehene Geld in Dividenden und Aktienrückkäufe um. Quantitative Easing erwies sich als ein Problem, das mögliche Lösungen verdeckte.

Nach der globalen Finanzkrise waren daher alle Marktteilnehmer außer den Banken die bevorzugten Wall-Street-Kunden. Die allgemeine Verschuldung stieg vor der Pandemie auf neue Rekorde. Als die Notenbanken im April 2020 die Geldschleusen dann noch weiter öffneten, geriet auch der Kreditmarkt aus dem Gleichgewicht.

Der Effekt der geldpolitischen Maßnahmen war zunächst breit gestreut: Anleger freuten sich über lebhaft steigende Kurse, die Unternehmen verbuchten ordentliche Gewinne…

Almeida: Die massive Flutung der Märkte mit Unmengen billigen Geldes ließ die Gewinnmargen der Unternehmen ungeachtet des schwächsten Konjunkturzyklus seit über 100 Jahren im Jahr 2018 auf neue Rekordhochs steigen. 2022 wurden die Unternehmensgewinne dann noch einmal übertroffen, wegen der verzögerten Wirkungen der übertriebenen Konjunkturprogramme, mit denen sich die Geld- und Fiskalpolitik gegen die Folgen der Covid-19-Krise stellte. Das Gefährliche daran: Schulden sind ein Wechsel auf die Zukunft – und viele Unternehmen weisen derzeit nicht nachhaltige Margen und Gewinne aus. Es war das billige Geld der Notenbanken, das zu kurzlebigen Gewinnen führte.

Hand aufs Herz: Was bringt die Zukunft?

Almeida: „Dem S&P 500 droht das schwächste Jahr seit 1970“,* lauteten unlängst die dramatischen Schlagzeilen – weil eben die Kurse von Aktien- und Unternehmensanleihen unweigerlich von den Gewinnmargen der Unternehmen abhängen. Doch zurzeit erzählen viele Unternehmensvorstände ihren Investoren, dass die Gewinnmargen trotz wachsender Rezessionsrisiken und immens steigender Kosten weiterhin auf einem Allzeithoch liegen können. Das erklärt auch die noch immer hohen Gewinnerwartungen vieler Analysten, trotz offensichtlich nachlassender Umsätze und steigender Kosten. Viele Marktteilnehmer wollen offenkundig vor lauter Bäumen den Wald mit seinen Gefahren nicht sehen. Für uns bei MFS Investment Management gibt es hingegen gute Gründe, sich Marktmuster aus der Vergangenheit genau anzusehen und daher die überaus optimistischen Verlautbarungen in Zweifel zu ziehen.

Weitere Markteinschätzungen von MFS Investment Management finden Sie hier.

 * Yahoo News, 29. Juni 2022.

Die hier dargestellten Meinungen sind die des Autors und können sich jederzeit ändern. Sie dienen ausschließlich Informationszwecken und dürfen nicht als Empfehlung, Aufforderung oder als Anlageberatung verstanden werden. Prognosen sind keine Garantien.

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