Berenberg-Volkswirt Jörn Quitzau
Marktwirtschaft in Gefahr?
Jörn Quitzau, Volkswirt bei der Berenberg Bank und Leiter des Bereichs Wirtschaftstrends. Foto: Berenberg
Seit 2010 geht es mit der deutschen Wirtschaft bergauf. Neun Jahre wirtschaftlichen Erfolges sind eine lange Zeit. Möglicherweise eine zu lange Zeit, denn offenbar geht immer mehr das Bewusstsein dafür verloren, was die Grundlagen für den wirtschaftlichen Erfolg der laufenden Dekade sind.
Seit 2010 geht es mit der deutschen Wirtschaft bergauf. Deutschland hat die Nachwirkungen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise mit Bravour überstanden, ebenso die Euro-Vertrauenskrise, die Brexit-Entscheidung und andere Negativmeldungen aus dem In- und Ausland. Neun Jahre wirtschaftlichen Erfolges sind eine lange Zeit. Möglicherweise eine zu lange Zeit, denn offenbar geht immer mehr das Bewusstsein dafür verloren, was die Grundlagen für den wirtschaftlichen Erfolg der laufenden Dekade sind.
Es zeigt sich, dass marktwirtschaftliche Grundsätze zunehmend infrage gestellt werden. Die SPD möchte mit ihrem jüngst vorgestellten Reformpapier „Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit“ die...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
Da diese Artikel nur für Profis gedacht sind, bitten wir Sie, sich einmalig anzumelden und einige berufliche Angaben zu machen. Geht ganz schnell und ist selbstverständlich kostenlos.
Seit 2010 geht es mit der deutschen Wirtschaft bergauf. Deutschland hat die Nachwirkungen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise mit Bravour überstanden, ebenso die Euro-Vertrauenskrise, die Brexit-Entscheidung und andere Negativmeldungen aus dem In- und Ausland. Neun Jahre wirtschaftlichen Erfolges sind eine lange Zeit. Möglicherweise eine zu lange Zeit, denn offenbar geht immer mehr das Bewusstsein dafür verloren, was die Grundlagen für den wirtschaftlichen Erfolg der laufenden Dekade sind.
Es zeigt sich, dass marktwirtschaftliche Grundsätze zunehmend infrage gestellt werden. Die SPD möchte mit ihrem jüngst vorgestellten Reformpapier „Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit“ die eigene Agenda 2010 hinter sich lassen.1Diese Reformagenda, mit der marktwirtschaftliche Mechanismen gestärkt wurden, war die Grundlage für den bemerkenswerten Umschwung am Arbeitsmarkt und für den kräftigen Aufschwung in der Wirtschaft. Eine solche Erfolgsgeschichte hinter sich lassen zu wollen, kann wohl hauptsächlich mit parteitaktischen Gründen erklärt werden. Oder braucht es wirklich einen neuen Sozialstaat für eine neue Zeit?
Doch nicht nur die vom politischen Bedeutungsverlust gezeichnete SPD möchte neue Wege beschreiten. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier stellte kürzlich seine „Nationale Industriestrategie 2030“ vor und setzt damit einen für CDU-Verhältnisse erstaunlichen wirtschaftspolitischen Akzent. Der Staat würde dem Strategiepapier zufolge eine neue, wichtigere Rolle in der Wirtschaft erhalten. Ist dies eine ideologische Kehrtwende oder eine sachgerechte Antwort auf den Wettbewerb mit China, wo der Staat eindeutig auf Industriepolitik setzt und damit die Spielregeln
verändert?
Auch der Zeitgeist entfernt sich immer weiter von marktwirtschaftlichen
Grundsätzen. Das Leistungsprinzip und die Eigenverantwortlichkeit sind in Teilen der Gesellschaft nicht mehr en vogue, wie unter anderem die andauernden Diskussionen über ein bedingungsloses Grundeinkommen zeigen. Stattdessen werden zunehmende Ungerechtigkeiten bei der Einkommensverteilung beklagt und der Ruf nach höheren Steuern – insbesondere am oberen Ende der Einkommensskala – verstummt selbst in Zeiten sprudelnder Steuereinnahmen nicht.
In der Spätphase des Aufschwungs gerät die Wachstumspolitik offenbar in die Defensive. Die gute wirtschaftliche Performance und der hohe Wohlstand werden zuweilen als selbstverständlich vorausgesetzt. Stattdessen richtet sich der Blick auf mehr Umverteilung und darauf, tatsächliche oder vermeintliche Fehlentwicklungen der Marktwirtschaft zu korrigieren.
Gerechtigkeit, Weitsicht, Umweltschutz, Sinnstiftung oder gar Moral – all das wird dem Markt kaum zugetraut. Und er gehört zu den Hauptverdächtigen als Verursacher der aktuellen gesellschaftlichen Spannungen. Dass dem Markt so wenig Vertrauen entgegengebracht wird und so viele negative Eigenschaften zugeschrieben werden, liegt gelegentlich auch an einem mangelhaften Verständnis marktwirtschaftlicher Prozesse. Gewiss sind Märkte nicht perfekt – das wissen wir nicht erst seit den Fehlentwicklungen, die zur Finanzkrise führten. Weil sie nicht perfekt sind, leben wir nicht in einer vollkommen freien und unregulierten, sondern in einer sozialen Marktwirtschaft. Gemessen an der Staatsquote von rund 44 % des BIP spielt der Staat schon heute eine bedeutende Rolle.
1 Vgl. dazu ausführlicher Die neuen Sozialstaatsideen der SPD., Berenberg Makro vom 12. Februar 2019.
Über den Autor