Berenberg-Volkswirt Jörn Quitzau
Marktwirtschaft in Gefahr?
Jörn Quitzau, Volkswirt bei der Berenberg Bank und Leiter des Bereichs Wirtschaftstrends. Foto: Berenberg
Seit 2010 geht es mit der deutschen Wirtschaft bergauf. Neun Jahre wirtschaftlichen Erfolges sind eine lange Zeit. Möglicherweise eine zu lange Zeit, denn offenbar geht immer mehr das Bewusstsein dafür verloren, was die Grundlagen für den wirtschaftlichen Erfolg der laufenden Dekade sind.
Die Vorteile marktwirtschaftlicher Lösungen ergeben sich – bei allen Fehlern im Detail – immer aus der Qualität der verfügbaren Alternativen. Es ist deshalb falsch, Marktergebnisse an einem theoretischen Idealzustand zu messen. Wir möchten mit dieser neuen Publikationsreihe für verschiedene Bereiche prüfen, ob die Marktwirtschaft tatsächlich ein Problem ist oder ob sie sich doch eher als Lösung für wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme anbietet. In einer Zeit, in der die Digitalisierung wirtschaftliche Abläufe von Grund auf verändert und in der die gesellschaftliche Stimmung aufgewühlt ist, mögen die Antworten heute im Detail anders ausfallen als noch vor fünf oder zehn Jahren.
Dennoch...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Die Vorteile marktwirtschaftlicher Lösungen ergeben sich – bei allen Fehlern im Detail – immer aus der Qualität der verfügbaren Alternativen. Es ist deshalb falsch, Marktergebnisse an einem theoretischen Idealzustand zu messen. Wir möchten mit dieser neuen Publikationsreihe für verschiedene Bereiche prüfen, ob die Marktwirtschaft tatsächlich ein Problem ist oder ob sie sich doch eher als Lösung für wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme anbietet. In einer Zeit, in der die Digitalisierung wirtschaftliche Abläufe von Grund auf verändert und in der die gesellschaftliche Stimmung aufgewühlt ist, mögen die Antworten heute im Detail anders ausfallen als noch vor fünf oder zehn Jahren.
Dennoch ist das generelle Unbehagen gegenüber unserem Wirtschaftssystem nicht neu. Mit der globalen Finanzkrise sind Marktwirtschaft und Kapitalismus unter massiven Rechtfertigungsdruck geraten. Wir sind deshalb schon im Jahr 2013 gemeinsam mit dem Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) der Frage nachgegangen, ob das marktwirtschaftliche Modell seiner Verantwortung noch gerecht wird. Da die Kernaussagen unserer damaligen Publikation unverändert gültig sind, möchten wir sie zum Einstieg in die neue Publikationsreihe „Marktwirtschaft in Gefahr?“ noch einmal in Erinnerung rufen:2
- Verantwortung und Wirtschaftssystem: Häufig werden Vorbehalte gegen die Marktverteilung artikuliert, weil die Akteure eigennützig handeln. Sie werden weniger von guten Absichten geleitet, sondern hauptsächlich von einem eigennützigen Gewinnmotiv. Die Marktwirtschaft legitimiert sich moralisch aber nicht durch gute Motive der Handelnden, sondern durch gute Ergebnisse des Systems („Verantwortungsethik“).
- Einkommensverteilung: In einer Marktwirtschaft gilt das Prinzip von Leistung und Gegenleistung. Wer mehr leistet, verdient mehr. Hohe Einkommen sind im Regelfall Ausdruck höherer Begabungen, besserer Qualifikationen und höherer Einsatzbereitschaften. Dass es in den vergangenen Jahren auf der Einkommensskala eine Reihe bemerkenswerter Ausreißer nach oben gab, liegt aber selten an entsprechender Mehrleistung, sondern oft am Faktor Glück. Die Globalisierung hat nämlich im Zusammenspiel mit dem technischen Fortschritt Märkte geschaffen, die nach dem Prinzip „The winner takes it all“ funktionieren (z. B. im Profisport und im Showgeschäft). So entfällt inzwischen knapp die Hälfte aller amerikanischen Einkommen auf die obersten 10 % der Einkommenspyramide. Ein Teil der „Glücksdividende“ wird durch die progressive Steuer abgeschöpft und damit der Allgemeinheit zugeführt.
- Verantwortung und Steuern: In Deutschland entziehen sich Besserverdienende ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht. Die obersten 10 % der Einkommenspyramide bringen rund 55 % des Einkommensteueraufkommens auf. Auch unter Berücksichtigung der übrigen Steuern und der Sozialabgaben bleibt der Befund bestehen: Starke Schultern kommen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nach. Wenn sich allerdings einzelne Bürger dem steuerlichen Zugriff entziehen, stellt sich die Frage, wie die Steuermoral verbessert werden kann. Die Steuermoralforschung kommt zu dem Ergebnis, dass die Politik diverse Ansatzpunkte hat – so wirkt sich z. B. ein hohes Maß an direkter Bürgerbeteiligung positiv aus. Zugespitzt formuliert: Ein gut organisierter, effizienter und an den Bedürfnissen der Bürger orientierter Staat hat vergleichsweise geringe Probleme, seine Steuern einzutreiben. Dagegen muss ein verschwenderischer, bürokratischer und an den Bedürfnissen der Bürger vorbei regierender Staat mit erheblichen Steuerwiderständen rechnen.
- Verantwortung und Vermögen: An vielen Stellen wird die Übernahme von Verantwortung deutlich: Das gesellschaftliche Wirken von Unternehmerfamilien wird heute unter dem Begriff „Family Philantropy“ zusammengefasst. Unternehmen bündeln ihr Engagement unter dem Stichwort „Corporate Social Responsibility“. Vermögende Personen achten bei der Geldanlage zunehmend auf ethische und soziale Kriterien. Manche gründen eine Stiftung – von den fast 20 000 rechtlich selbständigen Stiftungen in Deutschland widmen sich die meisten Stiftungen sozialen Zwecken. In den USA haben Bill und Melinda Gates zusammen mit Warren Buffet die moralisch bindende Kampagne „The Giving Pledge“ ins Leben gerufen. Sie wollen mit der Kampagne erreichen, dass die wohlhabendsten Menschen Amerikas (und darüber hinaus) einen erheblichen Teil ihres Vermögens philanthropischen Zwecken zukommen lassen.
- Wachstum, Verteilung, Verantwortung: Die Wechselwirkungen zwischen Wachstum und Einkommensverteilung sind vielfältig und komplex. Verantwortungsvolle Wirtschaftspolitik steht deshalb mit Blick auf die Einkommensverteilung vor einer sehr schwierigen Aufgabe: Einerseits dürfen durch Umverteilung die Leistungs- und Investitionsanreize nicht zerstört werden, um das Wachstum nicht abzuwürgen, andererseits muss die Verteilung so ausgewogen sein, dass sie gesellschaftlich akzeptiert wird, weil sonst Reibungsverluste und dadurch ebenfalls Wachstumseinbußen drohen. Positiv sind staatliche Bildungsinvestitionen, die vorzugsweise bereits im sehr frühen Kindesalter ansetzen. Damit legt der Staat den Grundstein für künftiges Wachstum und er leistet einen wichtigen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit, weil er die beruflichen und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten für diejenigen verbessert, deren Familien die notwendigen finanziellen Mittel fehlen. Der Staat übernimmt damit im besten Sinne Verantwortung für alle Mitglieder der Gesellschaft.
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