Ifo-Volkswirte Maximilian Blömer, Clemens Fuest und Andreas Peichl
Gegenvorschlag in der Hartz-IV-Reformdebatte
Von links: Maximilian Blömer, Ifo-Zentrum für Makroökonomik und Befragungen; Andreas Peichl, Ifo-Zentrum für Makroökonomik und Befragungen; Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts in München. Foto: Ifo-Institut
Die aktuellen Sozialgesetze sehen unterschiedliche Transferzahlungen vor, die nicht aufeinander abgestimmt sind. Das führe zu unerwünschten Folgen, kritisieren Maximilian Blömer, Clemens Fuest und Andreas Peichl. Die Ifo-Volkswirte präsentieren einen eigenen Reformentwurf.
In den letzten Monaten hat sich die Debatte über den Reformbedarf beim deutschen Grundsicherungssystem und insbesondere bei Hartz IV intensiviert. Die Kritik an Hartz IV setzt an verschiedenen Aspekten der geltenden Regelungen an, und es wird eine Vielzahl von Reformvorschlägen diskutiert – von minimalinvasiven Eingriffen im bestehenden System bis hin zu Radikalreformen wie der Einführung eines
bedingungslosen Grundeinkommens. Aus unserer Sicht liegt das Hauptproblem darin, dass die bestehenden Hartz-IV-Hinzuverdienstregelungen Kleinstjobs bis 100 Euro bevorzugen1, während es darüber hinaus selten lohnenswert ist, die Arbeitszeit auszuweiten (vgl. Peichl et al. 2017; Bruckmeier, Mühlhan und...
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In den letzten Monaten hat sich die Debatte über den Reformbedarf beim deutschen Grundsicherungssystem und insbesondere bei Hartz IV intensiviert. Die Kritik an Hartz IV setzt an verschiedenen Aspekten der geltenden Regelungen an, und es wird eine Vielzahl von Reformvorschlägen diskutiert – von minimalinvasiven Eingriffen im bestehenden System bis hin zu Radikalreformen wie der Einführung eines
bedingungslosen Grundeinkommens. Aus unserer Sicht liegt das Hauptproblem darin, dass die bestehenden Hartz-IV-Hinzuverdienstregelungen Kleinstjobs bis 100 Euro bevorzugen1, während es darüber hinaus selten lohnenswert ist, die Arbeitszeit auszuweiten (vgl. Peichl et al. 2017; Bruckmeier, Mühlhan und Peichl 2018).
Derartige Beschäftigungsverhältnisse sind einer Arbeitslosigkeit vorzuziehen, aber sie bieten in der Regel nur beschränkte Entwicklungsperspektiven. Ein solches System ist schädlich, denn es bestraft Leistung dort, wo sie sich besonders lohnt: wenn man durch eigene Anstrengung der Abhängigkeit von Transfers entkommen will. Obwohl gerade die Hartz-Reformen das Ziel hatten, die Anreize zur Arbeitsaufnahme zu verbessern, ist das Problem hoher impliziter Grenzsteuerbelastung von niedrigen Einkommen nach wie vor ungelöst.
Deshalb hat das Ifo-Institut im Februar 2019 einen eigenen Reformvorschlag unterbreitet, der sich darauf konzentriert, die Beschäftigungsanreize des Grundsicherungssystems zu verbessern (Blömer, Fuest und Peichl 2019). Ziel des Vorschlages ist es, Fehlanreize abzubauen, die Empfänger von Grundsicherung derzeit daran hindern, höhere eigene Einkommen zu erzielen und die Abhängigkeit von Transfers zu überwinden oder wenigstens zu reduzieren. Damit die Betroffenen der Niedrigeinkommensfalle entkommen können, muss sich Arbeit lohnen. In diesem Beitrag vergleichen wir den Ifo-Vorschlag mit anderen aktuell diskutierten Vorschlägen.
Kritik am aktuellen System
Durch die Hartz-Gesetze wurden unter anderem Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II (ALG II, umgangssprachlich »Hartz IV«) zusammengelegt. Zusätzlich zum ALG-II-Regelbedarf werden die Beiträge zur Krankenkasse gezahlt sowie Leistungen für Kosten der Unterkunft (KdU), einige unregelmäßige Leistungen (auf Antrag), sowie einige Vergünstigungen (zum Beispiel Befreiung von GEZ-Gebühren oder ÖPNV-Tickets).
Der durchschnittliche Leistungsumfang (Regelsatz + KdU) beträgt zirka 745 Euro im Monat für einen Single. Falls ein Hilfsbedürftiger ohne wichtigen Grund die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit verweigert, kann die Regelleistung um 30 Prozent, im Extremfall sogar vollständig gekürzt werden. Die Transferentzugsrate für Hinzuverdienste bzw. zur Anrechnung der Einkünfte der Bedarfsgemeinschaft liegt zwischen 80 und 100 Prozent. In der aktuellen Reformdebatte werden verschiedene Aspekte des bestehenden Systems kontrovers diskutiert. Dazu zählen:
1. die Leistungshöhe,
2. die Unabhängigkeit der gewährten Leistungen von
der bisherigen Erwerbsbiographie der Empfänger,
3. mangelnde Erwerbsanreize wegen hoher Transferentzugsraten,
4. geringes „Schonvermögen“,
5. die Angemessenheit von Sanktionen bzw. Leistungskürzungen
in bestimmten Fällen,
6. Stigmatisierung durch Gang zum Amt (mit der
Folge der Nichtinanspruchnahme durch anspruchsberechtigte
Bedürftige) sowie
7. die Komplexität des Sozialsystems insgesamt.
Über jeden dieser Punkte kann man unterschiedlicher Auffassung sein. Erstens kann man selbstverständlich über die „angemessene“ Höhe der Leistungen streiten. Das Verfahren zur Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze beruht auf unabhängigen statistischen Auswertungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Dieser wissenschaftliche Ansatz hat den Vorteil, dass die Sätze nicht im laufenden politischen (Überbietungs-)Prozess festgelegt werden, sondern empirisch fundiert und transparent berechnet werden. Wir begrüßen dieses Vorgehen und raten dringend davon ab, daran etwas zu ändern. Das bedeutet allerdings nicht, dass das jeweilige Berechnungsverfahren über jede Kritik erhaben ist. Mögliche methodische Fehler müssten korrigiert werden.2
1 Bruckmeier und Becker (2018) zeigen in ihren Auswertungen mit den PASS-Daten eine deutliche Häufung von Kleinstjobs mit Monatseinkommen knapp unter 100 Euro sowie von geringfügigen Beschäftigungen. Von Praktikern in Job-Centern wird zudem oft vermutet, dass es sich bei der Vielzahl dieser Tätigkeiten um sogenannte „Tarnkappenjobs“ handelt, die Schwarzarbeit verschleiern sollen (vgl. Rürup und Heilmann 2012).
2 Zur Kritik an der konkreten Vorgehensweise bei der Berechnung der Regelsätze siehe z.B. Bauernschuster et al. (2010), Becker und Tobsch (2016) oder Sell (2016).
- Seite 1 − Kritik am aktuellen Hartz-System
- Seite 2 − Arbeitsanreize nicht einschränken
- Seite 3 − Der Ifo-Vorschlag im Vergleich
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