Robert Habeck zur Hartz-IV-Debatte
Die Wirtschaft von der Gesellschaft her denken
Robert Habeck ist Bundesvorsitzender von Bündnis 90/ Die Grünen.
Ein Plädoyer für ein neues Garantiesystem, das ermutigt, den Wandel in der Arbeitswelt zu bestehen. Unser Problem ist nicht mehr die Massenarbeitslosigkeit, sondern der Fachkräftemangel.
Das ist auch eine Frage des Vertrauens in die Leistungsfähigkeit
der demokratischen Institutionen. Denn jeder und jedem, der oder die den Bedarf nachweist, muss das Existenzminimum garantiert sein – wohlgemerkt: Es geht um das Existenzminimum, also das Mindeste, was ein Mensch in diesem Land zum Leben braucht. Darauf sollten Menschen in jeder Lebenslage vertrauen können. Aber dieses Vertrauen wird durch das Sanktionsregime in vielen Fällen strapaziert: Versäumen Hartz-IV-Empfänger einen Termin oder brechen eine Maßnahme ab, wird ihr Leistungsanspruch für drei Monate um 30 Prozent reduziert, bei unter 25-Jährigen kann er ganz gestrichen werden. Dann bleibt nicht genug Geld für Lebensmittel,...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Das ist auch eine Frage des Vertrauens in die Leistungsfähigkeit
der demokratischen Institutionen. Denn jeder und jedem, der oder die den Bedarf nachweist, muss das Existenzminimum garantiert sein – wohlgemerkt: Es geht um das Existenzminimum, also das Mindeste, was ein Mensch in diesem Land zum Leben braucht. Darauf sollten Menschen in jeder Lebenslage vertrauen können. Aber dieses Vertrauen wird durch das Sanktionsregime in vielen Fällen strapaziert: Versäumen Hartz-IV-Empfänger einen Termin oder brechen eine Maßnahme ab, wird ihr Leistungsanspruch für drei Monate um 30 Prozent reduziert, bei unter 25-Jährigen kann er ganz gestrichen werden. Dann bleibt nicht genug Geld für Lebensmittel, der Strom wird abgestellt, Leute verschulden sich, im schlimmsten Fall werden sie obdachlos.
Letzteres heißt dann auch, dass die Betroffenen nicht mehr gemeldet und damit für die staatlichen Institutionen nicht mehr ansprechbar sind. Sie verschwinden schlichtweg aus unserem System. Das können und sollten wir uns als Gesellschaft nicht leisten. Gerade junge Menschen müssen Vertrauen in die staatlichen Institutionen und auch unser Sozialsystem entwickeln können, wenn wir sie langfristig nicht nur als Rentenzahler, sondern auch als aktive und gestaltende Mitglieder unserer Gesellschaft gewinnen wollen.
Damit aus den Umbrüchen in der digitalisierten Welt Chancen werden, müssen die Weiterbildungsund Qualifizierungsmaßnahmen für alle Menschen zu individuellen, maßgeschneiderten Angeboten mit intensiver Betreuung werden. Und warum sollten sich Menschen nicht auch weiterbilden dürfen, bevor sie überhaupt ihren Job verlieren? Das gelingt aus meiner Sicht am besten, wenn wir die dafür zuständigen Stellen von der Behörde, die die Garantiesicherung ausgibt, trennen. So erhalten die Betroffenen eine auf ihre Situation spezialisierte, unabhängige Beratung und Förderung.
Damit die Leistungen zum Leben reichen und die Teilhabe am sozialen Leben garantiert wird, müssen wir ein klares, verständliches und einfaches Verfahren für die Berechnung des soziokulturellen Existenzminimums einführen und den Regelsatz heben, wie es Sozialverbände schon lange fordern. Insbesondere brauchen Kinder eine eigene Grundsicherung – es hat einfach keinen Sinn, das Einkommen der Eltern auf den Bedarf der Kinder anzurechnen. Im Arbeitslosengeld ist der Lohnabstand für Familien heute besonders gering. Wenn wir Einkommen nicht länger auf den Kindesbedarf anrechnen, beseitigen wir dieses Problem und schaffen Erwerbsanreize für Menschen mit Kindern.
Durch ein Garantiesystem, eine Kindergrundsicherung und eine Erhöhung der Zuverdienstgrenze würden wir ärmere Haushalte entlasten, Menschen die Teilhabe am sozialen Leben ermöglichen und ihnen die Möglichkeit geben, zu einer prekären Arbeitsbeschäftigung auch mal nein zu sagen.
Das würde auch dazu beitragen, den Niedriglohnsektor auszutrocknen. Denn das Motto von Hartz IV ist: Mach jede Arbeit, egal zu welchem Lohn. Wenn Menschen dagegen nicht gezwungen werden, auf Teufel komm raus jede noch so schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen, wird das Druck auf die Unternehmen ausüben, sie besser zu bezahlen. Dass wir dennoch eine Erhöhung des Mindestlohns brauchen, steht außer Frage. Nur sollten wir nicht darauf warten, bis wir die ersten Schritte machen, wie die Erhöhung der Zuverdienstgrenzen.
Ja, die vorgeschlagenen Maßnahmen kosten Geld, für die ersten Schritte wäre sehr grob mit 30 Milliarden. Euro zu rechnen. Aber auch die Soli-Abschaffung, die nun vor allem die FDP und in Teilen die Union zu ihrer Kernforderung gemacht hat, kostet eine Menge Geld. Letztes Jahr flossen durch den Soli fast 19 Milliarden. Euro in die Kasse des Bundes. Deshalb ist das Argument, eine Reform sei zu teuer, ein schwaches, wenn es von den Verfechtern großer Steuersenkungen vorgetragen wird. Vielmehr stellt sich die Frage, wie das Geld am sinnvollsten verwendet wird, nämlich sozial und ökonomisch zugleich. Schließlich legen Menschen mit hohen Einkommen ihr Geld eher an oder sparen es, statt zu investieren.
Umgekehrt ist es, wenn Menschen mit niedrigeren Einkommen mehr Geld im Portemonnaie haben. Sie geben es aus. Sie kaufen ihren Kindern Geburtstagsgeschenke, gönnen sich eine neue Winterjacke oder gehen einmal ins Kino. Insofern hat es eben nicht nur soziale, sondern auch ökonomische Konsequenzen, wenn wir durch solche Maßnahmen niedrigere Einkommen entlasten. Das ist angesichts des sich ankündigenden Konjunkturabschwungs mehr als sinnvoll, weil es die Binnennachfrage erhöht.
Die politische Dimension eines Problems zu begreifen, heißt zu hinterfragen, warum viele Menschen keine Arbeit finden, weshalb jemand nicht beitragen kann, ob die Ziele der Sicherungssysteme womöglich die falschen sind. Politik machen, bedeutet nicht weniger, als die bestehenden Zustände auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls zu korrigieren. Ändern wir nicht nur das Wort Hartz IV, sondern erneuern wir das Versprechen gesellschaftlichen Zusammenhalts.
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