Wachtendorf-Kolumne ESG-Kriterien: Erst der Profit, dann die Moral

Wann immer ich an den 11. September 2001 zurückdenke, kommt mir folgendes Bild vor Augen: Es ist 8.46 Uhr Ortszeit, als die erste von islamischen Terroristen gekaperte Boeing 767 in den Nordturm des World Trade Centers einschlägt. Flammendes Inferno, Hunderte Tote, Panik bei den Überlebenden und in den Straßen von Manhattan. Nicht so in einem Büro im Südturm. Dort sitzen Dutzende Wertpapierhändler vor ihren Bildschirmen und versuchen eilig, aus den Meldungen über das grausige Geschehen nebenan Profit zu schlagen. Bis um 9.03 Uhr der Aufprall der zweiten Maschine sie selbst trifft.
Eine wahre Begebenheit? Ich habe offen gestanden keine Ahnung. Die Information stammt aus einem der zahllosen Zeitungsartikel, die sich in jenen dunklen Tagen mit dem Terroranschlag beschäftigten. Jemals durch eine weitere Quelle bestätigt gefunden habe ich sie bis heute nicht. Darauf kommt es aber auch gar nicht an. Entscheidend ist: Jeder, der die Geschichte hört oder liest, glaubt sie sofort. Banker mit Skrupeln oder Moral – das passt bereits 2001 in den Augen der meisten Betrachter nicht zusammen. Eine Einschätzung, die sich ab 2007 in der Finanzkrise auf ähnlich zynische Art und Weise bestätigt.
Seit einigen Jahren zeigt sich die Finanzbranche sichtlich darum bemüht, ihr katastrophales Image in der Öffentlichkeit zurechtzurücken. So stellt sie dem reinen Profitstreben der Vergangenheit inzwischen immer öfter drei Schlagworte entgegen, die den eingeläuteten Trend zu verantwortungsvollerem Investieren unterstreichen sollen: Environment, Social, Governance, kurz ESG. Das versteht zwar in Deutschland zunächst kein Mensch, wird aber in zahlreichen Hochglanzbroschüren – etwa von Blackrock, Allianz GI oder Fidelity – korrekt mit Umwelt, Soziales und Unternehmensführung übersetzt und wortreich erklärt. Dabei lernt der geneigte Investor dann unter anderem, dass zu einer nachhaltigen Geldanlage sehr viel mehr gehört als ein schonender Umgang mit natürlichen Ressourcen und der Verzicht auf Streubomben-Hersteller. Etwa die respektvolle Behandlung von Mitarbeitern und Geschäftspartnern. Oder eine maßvolle Entlohnung der Vorstände.
Das klingt erst einmal gut, und niemand sollte derartige Ausführungen von vornherein als Feigenblatt oder reine Worthülsen abstempeln. Als Beleg dafür, dass sich im Denken der Investmentbranche gerade ein grundlegender Wandel vollzieht, taugt die zunehmende Fixierung von Fondsmanagern auf ESG-Kriterien gleichwohl nicht. Denn es gibt immer wieder Momente, in denen die andere Seite des alltäglichen Geschäfts durchscheint. Die dunkle, hässliche Seite.
Beispiel gefällig? Ende Oktober wählte eine Mehrheit der Brasilianer den Rechtspopulisten Jair Bolsonaro zum neuen Präsidenten des Landes. Ein demokratischer Vorgang, den man als Außenstehender erst einmal zu akzeptieren hat, keine Frage. Und natürlich wäre es naiv zu erwarten, dass die Märkte darüber in Entsetzen ausbrechen – gab sich Bolsonaro im Wahlkampf doch wesentlich wirtschaftsfreundlicher als sein Konkurrent Fernando Haddad. Doch wie kommentieren Branchenvertreter die Entscheidung? Mit gestelzten Sätzen wie „Längerfristig könnten brasilianische Finanzanlagen zu zuverlässigen, alpha-generierenden Alternativen werden, falls es der neuen Regierung gelingt, angebotsseitige Beschränkungen, die das Wachstumspotenzial Brasiliens behindern, abzubauen und makroökonomische Ungleichgewichte weiter zu korrigieren.“
Um es klar und deutlich zu formulieren: Jair Bolsonaro ist mehr als ein Tropen-Trump. Er ist nicht nur Befürworter von Diktatur, Folter, Todesstrafe und des Maschinengewehrs in jedem Wohnzimmer, wie es die „Süddeutsche Zeitung“ treffend umschreibt. Sondern durch seine angekündigte Umweltpolitik auch eine ernste Gefahr für den Klimaschutz, also das E in ESG. Dies in einer Analyse, die sich mit dem Investment-Standort Brasilien beschäftigt, mit keiner Silbe zu erwähnen, ist ein schwaches Bild. Manch einer wird sagen: ein passendes.