Gerd Kommer und Daniel Ganowski Warum junge Anleger für einen Crash beten sollten
Vom renommierten amerikanischen Finanzmarktforscher William Bernstein stammt das Börsen-Bonmot: „If you are a twenty-something, just beginning to save, then get down on your knees and pray for a market crash“ („Wenn Sie um die 20 sind und gerade begonnen haben zu sparen, dann fallen Sie auf die Knie und beten Sie für einen Aktienmarkt-Crash“). Vergegenwärtigt man sich, wie hysterisch und alarmistisch die Finanzbranche, einige Medien und die meisten Internet-Blogger uns jede Woche neu vor den Gefahren eines Aktienmarkteinbruchs warnen, dann erscheint das Statement von Bernstein bizarr und unseriös. In diesem Beitrag rechnen wir nach, ob Bernstein mit seiner kuriosen Aussage Recht hat.
Eine Klärung vorab: Dass ein noch gar nicht investierter Anleger rein rechnerisch von einem Aktienmarkteinbruch profitiert, darum geht es hier nicht. Es geht um bereits investierte Anleger.
Das Hauptergebnis unserer Berechnungen nehmen wir gerne vorweg: Ja, Bernstein hat Recht. Es lässt sich...
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Vom renommierten amerikanischen Finanzmarktforscher William Bernstein stammt das Börsen-Bonmot: „If you are a twenty-something, just beginning to save, then get down on your knees and pray for a market crash“ („Wenn Sie um die 20 sind und gerade begonnen haben zu sparen, dann fallen Sie auf die Knie und beten Sie für einen Aktienmarkt-Crash“). Vergegenwärtigt man sich, wie hysterisch und alarmistisch die Finanzbranche, einige Medien und die meisten Internet-Blogger uns jede Woche neu vor den Gefahren eines Aktienmarkteinbruchs warnen, dann erscheint das Statement von Bernstein bizarr und unseriös. In diesem Beitrag rechnen wir nach, ob Bernstein mit seiner kuriosen Aussage Recht hat.
Eine Klärung vorab: Dass ein noch gar nicht investierter Anleger rein rechnerisch von einem Aktienmarkteinbruch profitiert, darum geht es hier nicht. Es geht um bereits investierte Anleger.
Das Hauptergebnis unserer Berechnungen nehmen wir gerne vorweg: Ja, Bernstein hat Recht. Es lässt sich quantitativ zeigen, dass ein Aktienmarkt-Crash junge Anleger unter realistischen Bedingungen begünstigt, sofern die Anleger richtig vorgehen. Dieses richtige Vorgehen ist weder komplex, noch erfordert es Zugang zu speziellen Informationen, schon gar nicht zum Pseudowissen der Crash-Propheten. Was es erfordert, sind Disziplin und ein wenig kluge Demut. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen: Um einen finanziellen Vorteil aus einem Crash zu ziehen, muss man nicht einmal jünger als 30 Jahre alt sein, wie es das Bernstein-Zitat suggeriert. Der Crash-Ausnutzungsvorteil existiert auch für ältere Anleger. Den sachlogischen Hintergrund dafür und die zahlenmäßigen Effekte werden wir nachfolgend erläutern.
Die Berechnungsgrundlagen
Wir beginnen mit einer Beschreibung der Annahmen, die unserer rechnerischen Überprüfung von Bernsteins Crash-wünschen-These zugrunde liegen: Wir unterstellen einen Anlagezeitraum von 35 Jahren. Das ist salopp gesagt ein Anlegerleben oder eine Anlegergeneration. Während dieses Anlegerlebens produziert das hier zugrunde gelegte Investment in Gestalt des globalen Aktienmarkts eine Rendite von 8,0 Prozent per annum. Dieser Wert entspricht ungefähr der tatsächlichen nominalen Rendite des Ondex MSCI World in den 35 Jahren von 1986 bis 2020 – in Euro, vor Kosten und Steuern.
Mit einem Indexfonds auf Buy-and-Hold-Basis hätte ein Privatanleger besagte 8 Prozent jährlich über diese dreieinhalb Jahrzehnte hinweg vereinnahmen können. (Auf die Berücksichtigung von Kosten und Steuern verzichten wir der Einfachheit halber, weil dieser Verzicht für das grundsätzliche Ergebnis unerheblich ist.)
Ferner unterstellen wir, dass eine hypothetische Anlegerin, die wir Hanna nennen, in diesen 35 Jahren einen schweren Aktienmarkteinbruch von minus 60 Prozent in einem einzelnen Jahr erleben muss. Wir gehen mit dem Wert von minus 60 Prozent bewusst über das Ausmaß hinaus, das die meisten heftigen Aktienmarkteinbrüche in den letzten 120 Jahren hatten. (Hätten wir diesen 60-Prozent-Einbruch auf zwei oder drei Jahre verteilt, würde das die weiter unten dargestellten Ergebnisse nicht grundsätzlich verändern.)
Über den gesamten 35-Jahres-Zeitraum unterstellen wir eine Durchschnittsrendite im Markt von – wie erwähnt – 8 Prozent p.a. Die vollständige Markterholung nach dem Crash dauert angenommene vier Jahre. Diese Annahme ist vermutlich realistisch. Wenn man die zehn schwersten globalen Aktienmarkteinbrüche in den vergangenen 120 Jahren betrachtet, dürften vier Jahre näherungsweise dem Mittelwert für die Dauer der Erholungsphase entsprechen. Welchen Einfluss eine langsamere (länger dauernde) Erholungsphase hätte, zeigen wir weiter unten auch.
Logischerweise muss die Durchschnittsrendite über die vier Erholungsjahre hinweg merklich oberhalb von 8,0 Prozent liegen, damit wir über die gesamten 35 Jahre zum Mittelwert von 8,0 Prozent p.a. gelangen. Ein Zahlenbeispiel zur Illustration: Nach einem Crash von 60 Prozent muss die Erholungsrendite über die vier nachfolgenden Jahre im Mittel 38,4 Prozent p.a. betragen, um über die gesamten fünf Jahre auf eine Durchschnittsrendite von 8,0 Prozent zu gelangen. In allen Nicht-Crash- und Nicht-Erholungsjahren beträgt die Jahresrendite annahmegemäß konstant 8,0 Prozent.
Beispielanlegerin Hanna
Hanna investiert im ersten der 35 Jahre 1.000 Euro pro Jahr. Dieser jährliche Sparbetrag nimmt in den folgenden 34 Jahren gleichförmig um 4,0 Prozent p.a. zu, steigt im zweiten Jahr also auf 1.040 Euro. Warum 4,0 Prozent? Weil wir annehmen, dass auch Hannas Einkommen in diesen 35 Jahren jährlich um 4,0 Prozent steigt. Allzu willkürlich ist diese Annahme nicht. In den 50 Jahren von 1971 bis 2020 wuchsen die nominalen Nettostundenlöhne in Deutschland nominal um etwa diesen Prozentsatz. Im realen Leben könnte Hanna ihre Sparquote vermutlich über ihren prozentualen Einkommenszuwachs hinaus erhöhen und trotzdem würde ihr Lebensstandard von Jahr zu Jahr zunehmen. Die spezifische Anstiegsrate ihres jährlichen Sparbetrages hat allerdings keinen Einfluss auf das grundsätzliche Ergebnis unserer Simulation.
Nun untersuchen wir, welchen Einfluss der genaue Zeitpunkt unseres angenommenen 60 Prozent-Crashs auf das Endvermögen von Hanna hat. Besonders interessiert uns, wie sich ein früher versus ein später Crash innerhalb der 35 Jahre auf das erreichte Endvermögen auswirkt. Denn schließlich legte Bernstein in seiner Aussage ja die Betonung auf das Crash-Herbeiwünschen „jetzt“ – und zwar von jungen Anlegern, die definitionsgemäß noch eine lange Investmentphase vor sich haben.
Tabelle 1: Illustration der Auswirkung des Zeitpunkts eines einzelnen Crashs von 60 Prozent zu unterschiedlichen Zeitpunkten innerhalb eines Gesamtzeitraums von 35 Jahren. Mit anschließender Erholungsphase von vier Jahren sowie Referenzszenario ohne Crash
Alle Zahlen gerundet. [1] Die aufsummierten Einzahlungen in den 35 Jahren betragen knapp 74.000 Euro. [2] Rendite gemessen als interner Zinsfuß aller Einzahlungen und des Vermögensendwertes. [3] Das Jahr 31 ist das späteste Jahr, in dem noch eine vollständige Erholung über definitionsgemäß vier Jahre erfolgen kann – siehe die im laufenden Text ausformulierten Annahmen. Tabellen: Gerd Kommer Invest
Was sind die Hauptschlussfolgerungen aus den Berechnungen, die in Tabelle 1 zusammengefasst werden?
In allen vier hier gezeigten Crash-Szenarien, auch in den beiden Szenarien mit einem Crash in der zweiten Hälfte der 35 Jahre, ist das Endvermögen und damit auch die durchschnittliche Rendite über den 35-jährigen Gesamtzeitraum höher als im Referenzszenario ohne Crash (Szenario X in der Spalte ganz rechts). Mancher Leser wird sich die Augen reiben und fragen: „Wie ist das möglich? Müssten Endvermögen und Rendite im Falle eines Crashs nicht schlechter sein als ohne Crash?“ Oder: „Kann die Rendite nicht bestenfalls gleich hoch wie im Nicht-Crash-Szenario sein?“