Volkswirt Henning Vöpel
Was Freiheit bedeutet

Henning Vöpel ist Direktor des Centrums für Europäische Politik. Foto: Centrum für Europäische Politik
In Deutschland tobt eine Impf-Debatte, die auch Freiheitsrechte berührt. Volkswirt Henning Vöpel vom Centrum für Europäische Politik erklärt philosophische Hintergründe.
Die Gesellschaft spaltet sich zusehends durch erbittert und immer unversöhnlicher geführte Grundsatzdebatten. Abgrenzung, Ausgrenzung und Radikalisierung sind die Mechanismen. Ursache ist auch ein falsch verstandener Freiheitsbegriff – einer, der die eigene Toleranz gegenüber Andersdenkenden und die eigene Verantwortung gegenüber Mitmenschen eklatant vermissen lässt. Freiheit wird zum Freibrief. Die Frage um die Impfpflicht versinnbildlicht dies: Wie verhält sich angesichts einer hereinbrechenden vierten Welle die erneut drohende massive Einschränkung der Freiheitsrechte für Geimpfte zu dem von den Ungeimpften eingeforderten Recht auf Selbstbestimmung?
Ein Freiheitsbegriff ohne Toleranz...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Die Gesellschaft spaltet sich zusehends durch erbittert und immer unversöhnlicher geführte Grundsatzdebatten. Abgrenzung, Ausgrenzung und Radikalisierung sind die Mechanismen. Ursache ist auch ein falsch verstandener Freiheitsbegriff – einer, der die eigene Toleranz gegenüber Andersdenkenden und die eigene Verantwortung gegenüber Mitmenschen eklatant vermissen lässt. Freiheit wird zum Freibrief. Die Frage um die Impfpflicht versinnbildlicht dies: Wie verhält sich angesichts einer hereinbrechenden vierten Welle die erneut drohende massive Einschränkung der Freiheitsrechte für Geimpfte zu dem von den Ungeimpften eingeforderten Recht auf Selbstbestimmung?
Ein Freiheitsbegriff ohne Toleranz und Verantwortung führt notwendig in gesellschaftliche Dilemmata und Konflikte. Denn ein solcher Freiheitsbegriff bedeutet, dass die Freiheit des einen durch die Freiheit des anderen beschnitten wird, Freiheit dadurch in Widerspruch zu sich selbst gerät. Dabei ist es genau umgekehrt: Die Freiheit des anderen ist immer zugleich auch meine Freiheit. Wohlverstandene Freiheit dividiert sich nicht durch die Anzahl der Individuen, sondern multipliziert sich mit ihr.
Impliziert der Freiheitsbegriff eine Ordnungsfrage? Ja, denn Ordnungen sind immer auch auf den Vorstellungen von Freiheit errichtet, und zugleich dazu da, diese zu schützen. Ideengeschichtlich beginnt die Herleitung der Freiheit oft mit dem fiktiven Naturzustand eines frei geborenen Menschen. Doch kein Mensch ist je allein auf dieser Welt. Alles, was wir für uns fordern, muss zugleich auch für alle gelten können. „Was wir einander schulden“ („What we owe each other“), lautet der Titel des Buches von Minouche Shafik, in dem sie diese Frage, was wir einander schulden, zum Ausgangspunkt eines neuen Gesellschaftsvertrages macht (wie übrigens auch der Moralphilosoph T.M. Scanlon in seinem ähnlich lautenden Buch „What we owe to each other“, mit dem er in der Tradition von Immanuel Kant einen Beitrag zum Kontraktualismus leistet, also auch vertrags- bzw. konstitutionstheoretisch argumentiert). Was also sind wir uns schuldig?
Dass wir einander zuhören, uns in gegenseitiger Toleranz üben und füreinander Verantwortung tragen. Dafür ist es erforderlich, dass wir uns nicht immer nur als Betroffene und Opfer sehen, sondern uns auf abstrakte, die Gesellschaft befriedende Regeln des Zusammenlebens einigen. Wenn sich Autofahrer und Radfahrer auf der Straße anfangen zu bekriegen, dann deshalb, weil die Autofahrer sich nur als Autofahrer und die Fahrradfahrer nur als Fahrradfahrer sehen. Die eigentliche Ordnungsfrage aber lautet: Wem gehört der öffentliche Raum? Antwort: Niemandem und allen zugleich. Dann sind wir uns im öffentlichen Raum – wie bei der Freiheit generell – mehr Toleranz und Verantwortung schuldig. Denn in uns selbst spiegelt sich immer der andere.
Bietet der Freiheitsbegriff eine Perspektive für Europa? Ja, denn im geopolitischen Systemwettbewerb, in dem Europa mit China, Russland und letztlich auch den USA steckt, wird die Attraktivität der Systeme unter den Bedingungen von Klimakrise, Digitalisierung und Fragmentierung wesentlich durch den jeweiligen Begriff von Freiheit bestimmt werden. In vielen Teilen der Welt herrscht heute ein vom europäischen Verständnis verschiedener Freiheitsbegriff. Der europäische Freiheitsbegriff ist ein individualistischer, empathischer und solidarischer. Das macht ihn zugleich schwierig wie attraktiv. Vielleicht deshalb, weil er eben genau von der Frage ausgeht, was wir einander schuldig sind, und der Ausgangspunkt unseres Handelns die Würde des anderen ist.
Angesichts der großen Umbrüche und Herausforderung kann ein solcher aufgeklärter Freiheitsbegriff sehr hilfreich sein, die Klimakrise zu überwinden und die Freiheit zukünftiger Generationen zu schützen, die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz human zu entwickeln und Demokratie wieder zu stärken. Nicht zuletzt eine tödliche Pandemie, die nur durch gegenseitige Rücksicht überwunden werden kann, stellt diese Frage – und gerade jetzt, vor einer vierten Welle – wieder sehr akut und explizit: Was sind wir uns schuldig?
Unser aller Freiheit beginnt mit der Frage an uns selbst, was wir einander schulden. Freiheit ist kein Freibrief, sondern die Freiheit zur Verantwortung. Freiheit in Verantwortung meint immer die Freiheit aller. Die Freiheit in einer Gesellschaft ist nie größer als die Bereitschaft ihrer Mitglieder, Toleranz und Solidarität zu gewähren.
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