Anfang des Jahres veröffentlichte die Branchenplattform Insurlab Deutschland einen großen Report, der deutsche, französische und britische Insurtechs verglich. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas den beiden anderen Ländern in diesem Branchenzweig hinterherhinkt.

Balance des Insurtech-Ökosystems aus dem Gleichgewicht

Das Problem, das ich dem Report entnehme, ist die ungleiche Verteilung von Finanzierungen. Auf den ersten Blick sind diese in Deutschland am höchsten. Bei näherer Betrachtung aber fällt auf, dass ein Großteil dieser Mittel in ein einziges Unternehmen fließt: Wefox. Zwar sind in allen drei Ländern die Kapitalrunden auf einige wenige große Akteure konzentriert, Deutschland weist jedoch den größten Unterschied zwischen den Top-Drei-Investitionen und kleineren Unternehmen auf. Die Balance des hiesigen Insurtech-Ökosystems scheint aus dem Gleichgewicht zu sein. Auch ist die Zahl der Gründungen in Deutschland niedriger und die Start-up-Szene insgesamt kleiner als in Frankreich und dem Vereinigten Königreich.

Besorgniserregend finde ich die Tendenz bei der Neugründungsrate. Diese hat sich von einst 35 Start-ups auf einen historisch niedrigen Wert von vier im Jahr 2022 reduziert. Zwischen 2012 und 2022 wurden insgesamt 128 Insurtechs in Deutschland gegründet. Im gleichen Zeitraum gab es in Frankreich 194 Gründungen und im Vereinigten Königreich 224.

Drei Geschäftsmodelle im deutschen Markt verbreitet

Generell lassen sich drei Geschäftsmodelle identifizieren: Full Carrier, Distributoren und Enabler. Full Carrier sind digitale (Neo)-Versicherer mit eigener Bafin-Lizenz, die direkt mit etablierten Versicherungsunternehmen konkurrieren. Distributoren fungieren als Vermittler im Vertrieb zwischen Kunde und Versicherer, während Enabler Produkte und Dienstleistungen an Versicherer richten, wie zum Beispiel Add-on-Services oder die Kundenschnittstelle. Beliebt sind dabei Tools zur Digitalisierung oder Automatisierung sowie Datenanalysen und die Integration von KI. In Deutschland dominiert die Gruppe der Enabler. Offensichtlich hat dabei die ähnliche Marktausrichtung verschiedener Anbieter und der Kampf um die gleiche Kundenzielgruppe zur Geschäftsaufgabe mancher Unternehmen geführt. 

Welche Chancen der Markt bietet

Das heißt: Wer sich in Zukunft durchsetzen möchte, muss sein Angebot diversifizieren. Gefragt sind innovative Geschäftsmodelle. Denn aktuell fokussiert sich ein Großteil der deutschen Insurtechs auf die Distribution innerhalb der Wertschöpfungskette der Versicherungsindustrie. Ein klassisches Merkmal der Enabler, die sich durch ihren Fokus auf neue Technologien auszeichnen. Trends, wie die Digitalisierung der Kundenschnittstelle, könnten der Schlüssel zum Erfolg sein. Versicherungen müssen auf allen Kanälen erreichbar sein. Im Idealfall erfolgt die Kommunikation in Echtzeit, um den Bedürfnissen der Kunden gerecht zu werden.

Diese Erkenntnis sollte etablierte deutsche Versicherer motivieren, digitale Produkte zu integrieren. Fehlende Kapazitäten, mangelnde Erfahrungen oder aufwändige Datentransfers erweisen sich in diesem Zusammenhang aber als Hürden, um die gesamte Customer Journey nahtlos zu gestalten. Dabei geht es nicht nur um die Digitalisierung der Versicherungsprozesse, sondern auch um eine grundlegende Veränderung, wie Versicherungsprodukte konsumiert werden.

Embedded Insurance auf dem Vormarsch

Zudem verschiebt sich mit der Weiterentwicklung hin zu „Insurtech 2.0“ der Fokus auf das Konzept des Embedded Insurance. Das bedeutet, dass Versicherungsprodukte in andere Dienstleistungen oder Produkte von Partnerunternehmen integriert werden, ohne dass der Kunde diese aktiv konsumiert. Diese Angebotserweiterung bietet Kunden einen Mehrwert, stärkt die Wettbewerbsfähigkeit und schafft zusätzliches Umsatzpotenzial. Laut Prognosen wird in Europa für diesen Markt bis 2029 ein jährliches Wachstum von 19,4 Prozent erwartet.

Besonders die Echtzeit-Schadenregulierung und die Bereitstellung von Ersatz- und Reparatur-Services werden in Zukunft gefragt sein. Dies würde eine nahtlose und stressfreie Abwicklung im Schadensfall ermöglichen. Langfristig muss das Ziel sein, ein Gesamtökosystem aufzubauen, das den Risikoträger, den Endkunden, den B2C-Partner und verschiedene Servicedienstleister miteinander verbindet. Kunden müssten sich dann kaum mehr mit Versicherungsprodukten auseinandersetzen.

Innovation und Kreativität werden sich auszahlen

Ich bin überzeugt: Das Innovationspotenzial deutscher Insurtechs ist riesig. Die Kreativität der Anbieter kann der Versicherungsbranche insgesamt Aufschwung verleihen. Aktuell stehen deutsche Start-ups noch nicht in direkter Konkurrenz zu etablierten Versicherern. Echte Full Carrier gibt es nicht. Entsprechend besteht die Herausforderung für Insurtechs darin, sich von der Konkurrenz abzuheben. Und das gelingt aktuell nur über innovative Geschäftsmodelle oder strategisch sinnvolle Kooperationen – oder die richtige Unterstützung. Unternehmen, die sich nicht rechtzeitig vorbereiten, riskieren, im harten Konkurrenzkampf den Anschluss zu verlieren.

Schaut man nach Deutschland, wird klar, dass Investoren mutiger sein dürfen. Die Auswahl an unterschiedlichen Insurtechs ist facettenreich. Gleiches gilt für die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Die Branche bietet Raum für enormes Wachstum und durch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Versicherern, Start-ups und Investoren, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene, gelingt auch der Sprung an die europäische Spitze.

Über den Autor: 

Christian Range verantwortet als Co-Gründer und Geschäftsführer des Rostocker Insurtechs Hepster seit 2016 die Bereiche Strategie, Märkte und Investor Relations. Die Marke gehört zur Moinsure GmbH. Hepster agiert im Markt nicht als Vollversicherer, sondern als Managing General Agent, vergleichbar ist dies mit einem Assekuradeur. Range hat an der HBetriebswirtschaftslehre studiert. Er arbeitete fünf Jahre beim Versicherer Axa sowie 15 Jahre als Inhaber einer Gothaer-Agentur.