Risikovorständin Sonja Kardorf
Wie Risikomanager neue ESG-Anforderungen bewältigen

Sonja Kardorf ist Mitglied des Vorstands bei der Deutschen Leasing und für Risikomanagement zuständig. Foto: Deutsche Leasing / Canva
Finanzinstitute müssen sich nun aufgrund von regulatorischen Vorgaben mit Nachhaltigkeitsrisiken beschäftigen. Sonja Kardorf erläutert in ihrem Beitrag, wie sich diese erfassen, bewerten und managen lassen und warum sich Unternehmen dringend mit diesem Thema befassen sollten.
In der Vergangenheit konzentrierte sich das Risikomanagement von Finanzinstituten auf die für die Branche klassischen wesentlichen Risikoarten. Das sind zuvorderst Adressenausfall-, Marktpreis-, Liquiditäts- und operationelle Risiken. Während diese unverändert zentrale Bedeutung besitzen, sind nun aufgrund regulatorischer Vorgaben auch Nachhaltigkeitsrisiken adäquat zu berücksichtigen.
Der Begr...
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In der Vergangenheit konzentrierte sich das Risikomanagement von Finanzinstituten auf die für die Branche klassischen wesentlichen Risikoarten. Das sind zuvorderst Adressenausfall-, Marktpreis-, Liquiditäts- und operationelle Risiken. Während diese unverändert zentrale Bedeutung besitzen, sind nun aufgrund regulatorischer Vorgaben auch Nachhaltigkeitsrisiken adäquat zu berücksichtigen.
Der Begriff „Sustainable Finance“ steht für die politische Intention, dass Finanzmarktakteure bei ihren Entscheidungen Nachhaltigkeitsaspekte aktiv berücksichtigen sollen. Essenziell ist daher die Integration von nachhaltigkeitsbezogenen Risiken in den gesamten Risikomanagementzyklus: Gerade Umweltveränderungen, etwa in Folge des Klimawandels, können wesentliche Risiken für einzelne Finanzmarktakteure, aber auch für den Finanzmarkt insgesamt bedeuten.
Nachhaltigkeitsrisiken haben an Bedeutung gewonnen
In den letzten Jahren haben nachhaltigkeitsbezogene Risiken für das Risikomanagement in Finanzinstituten folglich enorm an Bedeutung gewonnen. Dabei hat dieses Thema viele Facetten. Es stellt sich die Frage, wie sich die für das eigene Geschäft relevanten Nachhaltigkeitsrisiken erfassen, bewerten und managen lassen.
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) gibt den von ihr beaufsichtigten Unternehmen zwar einerseits Orientierungshilfe. Sie definiert Nachhaltigkeitsrisiken als Ereignisse oder Bedingungen aus den Bereichen Umwelt, Soziales oder Unternehmensführung (ESG: Environmental, Social and Governance), „deren Eintreten tatsächlich oder potenziell negative Auswirkungen auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage sowie auf die Reputation eines beaufsichtigten Unternehmens haben können.“
Bereits vor einigen Jahren hat die Bafin ein „Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken“ veröffentlicht, das nach eigener Aussage als Kompendium unverbindlicher Verfahrensweisen (Good-Practice-Ansätze) bei der Umsetzung gesetzlicher Anforderungen an ein angemessenes Risikomanagement angewendet werden soll.
Andererseits ist die Erwartungshaltung der Aufsicht für eine praktische Umsetzung im Risikomanagement nicht hinreichend klar formuliert; insbesondere, da sich die sogenannten „Good-Practice-Ansätze“ zügig weiterentwickeln und sich somit die Anforderungsspirale nach jeder erfolgten Prüfung weiter nach oben dreht. Einen allgemeingültigen Standard gibt es daher bislang nicht.
Für Finanzinstitute ist wesentlich, dass die Struktur des Risikoressorts und die Personalstärke der Komplexität der Anforderungen Rechnung tragen. Nachhaltigkeitsbezogene Risiken betreffen die verschiedensten Risikofunktionen; alle Bereiche des Risikomanagements tragen zur Analyse, zur Bewertung oder zum Management dieser Risiken bei.
Allein die Risikoanalyse erfordert erhebliche Ressourcen. Risikoanalysten in Finanzinstituten berücksichtigen bei ihren Risikoentscheidungen auch den Einfluss von Nachhaltigkeitsrisiken, insbesondere auf das Adressrisiko von Kunden. Auch dem Risikocontrolling kommt eine bedeutende Rolle zu: Es steuert ESG-Risiken von der strategischen Ebene über die Portfolio- bis hin zur Einzelgeschäfts-Ebene.
Grundlage dafür bildet die ESG-Risikotreiberanalyse, die im Rahmen der jährlichen Risikoinventur durchgeführt wird. Bei international tätigen Finanzinstituten müssen auch die Auslandseinheiten in die Risikoanalyse einbezogen werden. Zudem nehmen auch die Compliance-Einheiten Nachhaltigkeitsrisiken immer mehr in den Fokus.
Somit ist auch die Second Line in den Instituten wichtiger Bestandteil bei der Bewertung von Nachhaltigkeitsrisiken. Schließlich tragen auch Vertriebseinheiten hierzu bei, da bereits die Akquise mit der Aufgabe verbunden ist, die richtigen Kunden mit beurteilungsrelevanten Informationen im Risikomanagement vorzustellen und auch beim Verwendungszweck der Finanzierung mögliche Nachhaltigkeitsrisiken von Beginn an im Fokus zu haben.
Sind Nachhaltigkeitsrisiken wirklich neue Risiken?
Tatsächlich ist die Problematik nicht neu, sie trägt jedoch eine neue „Überschrift“. Zahlreiche Nachhaltigkeitsaspekte wurden auch früher schon in der Risikoperspektive berücksichtigt. Beispiele dafür sind das Betrugsrisiko im Hinblick auf „G“ – Governance oder Arbeitsbedingungen bei den zu finanzierenden Unternehmen in der Dimension „S“ – Social.
Ein weiteres Beispiel sind intern definierte Ausschlusskriterien für bestimmte Kundenaktivitäten und Investitionen, die als sehr umweltschädlich oder kontrovers angesehen werden. Schon lange bevor die Finanzierung von Waffen oder Rüstungsgütern unter dem Aspekt Nachhaltigkeitsrisiko betrachtet wurde, haben wir nicht in waffenbezogene Geschäfte investiert – vor allem aus ethischen Gründen.
Auch wenn Nachhaltigkeitsrisiken nicht immer neue Risiken sind, müssen sie heute anders erfasst und geflaggt werden. Wir verstehen Nachhaltigkeitsrisiken als Querschnittsrisiken, die prinzipiell alle Risikoarten direkt oder indirekt betreffen und somit unterschiedliche Geschäftsbereiche und -prozesse tangieren können.
In unserem Tagesgeschäft sehen wir, dass Kunden immer häufiger Risiken aus den Dimensionen E, S und G ausgesetzt sind. Am deutlichsten zeigen sich die Auswirkungen von Umweltrisiken, besonders bei Unternehmen im Agrarsektor. Lange Hitzeperioden führen zu Dürre und diese wiederum zu Ernteausfällen bei Agrarkunden. In manchen Regionen Osteuropas sind etwa 80 Prozent unserer Kunden im Agrarsektor tätig; dies verdeutlicht die hohe Relevanz von Umweltauswirkungen in dieser Region.
Während sich Nachhaltigkeitsrisiken bereits im Geschäft materialisieren, kommt das Thema auch verstärkt von regulatorischer Seite auf die Agenda. In der siebten Marisk-Novelle (Juni 2023) wurde für deutsche Institute die verpflichtende Vorgabe inkludiert, nachhaltigkeitsbezogene Risiken explizit im Risikomanagementzyklus zu berücksichtigen.
Mit welchen Herausforderungen sieht sich das Risikomanagement konfrontiert?
Der Prozess der Identifikation von Nachhaltigkeitsrisiken ist komplex, die damit verbundenen inhaltlichen Überlegungen sind anspruchsvoll. Nicht jeder Fall ist eindeutig, zudem fehlen – wie bereits erwähnt – allumfassende Standards. Die Bewertung kann im Einzelfall aufgrund von Widersprüchen schwierig sein.
Das zeigt beispielsweise der Fall Tesla: Hier fällt die Bewertung des Unternehmens nach Umweltaspekten anders aus als nach sozialen Kriterien, wie zum Beispiel den Arbeitsbedingungen. Das Beispiel des Ausschlusses von Investitionen in der Waffenindustrie zeigt andererseits auf, dass sich Einschätzungen unter veränderten Rahmenbedingungen durchaus ändern können: Vor dem Hintergrund der aktuellen Konflikte in der Ukraine und im Gaza-Streifen sowie in dem Bewusstsein, dass Verteidigungsfähigkeit sehr wichtig geworden ist, kann eine potenzielle Finanzierung von Produktionsanlagen in der Rüstungsindustrie eine neue Bewertung erfahren. Einige Wettbewerber überdenken daher aktiv ihre Kriterien.
Auch unter der Belegschaft eines Instituts gibt es unterschiedliche Ansätze, Überzeugungen und individuelle ethische Maßstäbe. Es braucht daher eine klare Guidance seitens der Geschäftsleitung, was im jeweiligen Institut gewünscht ist.
Aufgrund der expliziten Betrachtung von ESG-Aspekten kommt es zwar nicht zu einer Zunahme der Risikokategorien, die Gesamtzahl der Risikotreiber wächst jedoch. Ziel ist es, die spezifischen Risikotreiber für alle Risikoarten sowie die jeweiligen Transmissionskanäle zu analysieren.
„ESG“ ist kein Kurzfristphänomen, vielmehr müssen ein längerer Zeithorizont betrachtet und potenzielle langfristige Auswirkungen von physischen und transitorischen Risiken analysiert werden. Für Finanzinstitute ist die Vermeidung von erheblichen Wertverlusten ihrer Kreditsicherheiten (zum Beispiel Gefahr von „Stranded Assets“) von zentraler Bedeutung. Negative Einflüsse auf die Wertverläufe aufgrund veränderter Nachhaltigkeitsansprüche, erhöhter Betriebskosten oder gar Nutzungsverbote müssen frühzeitig erkannt und antizipiert werden.
Weiter muss die Materialität fundiert hergeleitet und begründet werden. Die Regulatorik verlangt außerdem eine Quantifizierung statt einer rein qualitativen Beschreibung der Risiken. Diese Bewertung von ESG-Risiken bedeutet unternehmensseitig die größte Herausforderung. Dazu zählen auch die Verfügbarkeit von Daten, die Datenerhebung und die Integration der Daten in die bestehenden Systeme. Dies zieht eine erhebliche finanzielle Investition in Ressourcen – Mensch und IT – nach sich.
Schließlich gilt es, aus den Analysen strategische Empfehlungen abzuleiten – sowohl intern für das Management als auch extern gegenüber den Kunden.
Lösungsansätze für den internen Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken
Zunächst gilt es, ein einheitliches Verständnis innerhalb des Risikobereichs sicherzustellen. Am Anfang steht die Aufklärungsarbeit, etwa die Wissensvermittlung zu den unterschiedlichen Ausprägungen von physischen und transitorischen Risiken. Auch können Begriffe – etwa übersetzungsbedingt – unterschiedlich interpretiert werden. So kann „Environment“ allgemein „Umfeld“ oder konkreter „Umwelt/Natur“ bedeuten. Hier sind eindeutige Definitionen nötig.
Eine allgemeingültige Guidance bietet zum Beispiel bei uns intern die „Nachhaltigkeits-Leitlinie“. Diese wurde auf Basis eines Peer-Vergleichs entwickelt und beinhaltet unter anderem eine Liste von Ausschlusskriterien.
Schon heute werden externe ESG-Scores für die Kreditbewertung als zusätzliche Ressource beziehungsweise als Unterstützung für die Bewertung genutzt.
Wir veranstalten regelmäßig einen internen Risikotag, an dem unterschiedliche Bereiche sich und ihre Arbeit vorstellen; im Jahr 2023 lag der Fokus ganz klar auf allen Dimensionen von Nachhaltigkeit. Mit dabei waren Teams, die zu Windkraft-Projekten referierten; Experten, die über Klima-Szenarien berichteten, sowie auch interne Fachleute, die zum Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz sprachen.
Zudem findet kontinuierlich eine enge inhaltliche Abstimmung mit dem Team statt, das mit der Nachhaltigkeitsberichterstattung gemäß der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) betraut ist. Für dieses Team sind die Analyse und Bewertung von Nachhaltigkeitsrisiken ebenfalls zentrale Elemente.
Aber auch außerhalb des Unternehmens findet ein reger Austausch statt. Unsere Risikomanager und -managerinnen besuchen regelmäßig Fachkonferenzen und Tagungen. Sie tauschen sich mit Risikoteams aus anderen Unternehmen aus.
Schließlich mandatieren wir zu ausgewählten Aspekten spezialisierte Berater – für den Branchenvergleich, aber auch für das Aufsetzen und Implementieren von Methoden.
Fazit
Derzeit gibt es noch nicht die eine richtungsgebende „Best Practice“, sondern ein Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze und Methoden. Finanzinstitute müssen daher eigenständig die passenden Lösungsansätze für sich und ihr jeweiliges Geschäftsmodell finden, haben aber andererseits auch noch Freiheiten hinsichtlich der Umsetzung.
Jene Unternehmen, die sich heute als „erste Generationen“ ernsthaft in der Tiefe mit ESG-Risiken befassen, setzen neue Standards. Sie definieren heute die „künftige Best Practice“.
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