Wirtschaftsphilosophin Silja Graupe
„Die Welt braucht mehr Visionen“

Silja Graupe ist Professorin für Ökonomie und Philosophie und Vizepräsidentin der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. Foto: Pariter Fortis
Seit ungefähr acht Monaten hält die Corona-Pandemie die Welt in Atem. Stefan Haake, Mitbegründer des Family Office Pariter Fortis, spricht im Interview mit der Ökonomie- und Philosophie-Professorin Silja Graupe über das Arbeits- und Privatleben der Zukunft und das Konzept der Imagination.
Das Thema Nachhaltigkeit bewegt Unternehmen, Kapitalmärkte, Gesetzgeber. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die Analysen und Thesen der bedeutendsten Nachhaltigkeitsexperten, Top-Ökonomen und Großinvestoren – gebündelt und übersichtlich. Sie sollen dir die wichtigen Entwicklungen auf dem Weg zur nachhaltigen Gesellschaft und Finanzwelt clever und zuweilen kontrovers aufzeigen.
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Mal bewusst provokant gefragt: Muss man mit Visionen nicht zum Arzt? Was bringt Studierenden Imagination als substantieller Bestandteil eines Studienganges?
Silja Graupe: Imaginationen sind keine Halluzinationen. Sie machen es aber möglich, Gegenwart neu zu entdecken und zudem Zukunftsbilder zu entwerfen, die das Noch-Nie-Dagewesene und damit eine offene Zukunft vorstellbar machen. Richtig ist, dass man die Fähigkeit zur Imagination nicht braucht, solange man sich auf alte Gewohnheiten der Weltwahrnehmung verlassen kann. Banal gesagt, spart es schlicht Zeit, wenn ich morgens im Badezimmer einfach zu diesem länglichen Ding mit Borsten vorne dran greife, eine Zahnbürste darin erkenne und mir damit die Zähne schrubbe. Das kann gerne Jahrzehnte so weitergehen. Aber erinnern Sie sich an dieses faszinierende Foto von vor ein paar Jahren, das ein im Meer treibendes Plastik-Wattestäbchen zeigte, an das sich ein Seepferdchen klammerte? Es macht mit einem Schlag deutlich: Was wir in unseren privaten Badezimmern tun, ist bis hin zum kleinsten Meeresbewohner relevant. Und wenn wir etwas für die Umwelt tun wollen, dann müssen wir uns genau solche Bilder von diesen Zusammenhängen machen und auf ihrer Basis handeln können. Studiengänge, die die hierfür notwendigen gestalterischen Fähigkeiten vermitteln und die Verantwortung, die mit ihnen einhergehen, tragen lehren, halte ich für hochgradig relevant in einer komplexen Welt wie der unseren.
Imagination, als Einbildungskraft verstanden, ist bei den Philosophen Kant, Hegel und Fichte bereits selbstverständlicher Bestandteil derer Theorien. Wird die Befähigung hierzu in einer Wirtschaftswelt zunehmend wichtiger oder war Sie eigentlich immer schon Bestandteil davon, ohne dass wir es heute noch bemerken?
Graupe: Imaginationen sind ganz wesentliche Treiber wirtschaftlicher Entwicklung. Der Soziologe Jens Beckert spricht etwa davon, dass fiktionale Erwartungen und nicht etwa eherne Gesetze oder gar Sachzwänge den Kurs der Wirtschaft bestimmen: Menschen handeln gerade auch in der Ökonomie auf der Basis dessen, was noch nicht ist, sich aber bereits vorgestellt werden kann. Und Innovationen beruhen oft darauf, dass Menschen in der Welt etwas entdecken, das zuvor schlichtweg verborgen blieb. Doch leider überlassen wir dies meist eher dem Zufall, oder glauben daran, es fiele nur wenigen Genies gleichsam von Natur aus zu. Imagination aber lässt sich tatsächlich lernen. Damit meine ich beileibe nicht nur, mit fiktiven Erwartungen den Bereich des Marketings aufzuhübschen. Imaginationen benötigen wir vor allem auch in den Bereichen der Wirtschaftspolitik und in der Frage, was eigentlich die Ziele unseres Wirtschaftens sein sollten.
Mal Imagination mit Vorstellungskraft, Ideenreichtum, Vorstellungsvermögen gleichgesetzt, ist das nicht eher wie Kreativität zu verstehen? Kann man Kreativität lernen, geschweige denn studieren und ist sie nicht eher musischen Themen zuzuordnen?
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