Wirtschaftsphilosophin Silja Graupe
„Die Welt braucht mehr Visionen“
Silja Graupe ist Professorin für Ökonomie und Philosophie und Vizepräsidentin der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. Foto: Pariter Fortis
Seit ungefähr acht Monaten hält die Corona-Pandemie die Welt in Atem. Stefan Haake, Mitbegründer des Family Office Pariter Fortis, spricht im Interview mit der Ökonomie- und Philosophie-Professorin Silja Graupe über das Arbeits- und Privatleben der Zukunft und das Konzept der Imagination.
Spätestens nach Einstein, dem folgendes Zitat zugeschrieben wird „Phantasie ist wichtiger als Wissen. […] Sie ist, im wahrsten Sinne des Wortes, ein realer Faktor der wissenschaftlichen Forschung.“, sollte doch Imagination fester Bestandteil jeglicher Forschung und Lehre an Hochschulen sein, oder?
Graupe: Ja, das sollte sie sein, ist es aber leider nicht. Kurz gesagt, ist Imagination die Fähigkeit, sich aus eigenen Erfahrungen und Sinneseindrücken konkrete Bilder der Welt zu machen. Auf Basis lässt sich sodann lernen, realitätsnah zu handeln und bewusst Urteile zu bilden. Die Imagination schafft also gleichsam den fruchtbaren Boden, auf dem Menschen...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Spätestens nach Einstein, dem folgendes Zitat zugeschrieben wird „Phantasie ist wichtiger als Wissen. […] Sie ist, im wahrsten Sinne des Wortes, ein realer Faktor der wissenschaftlichen Forschung.“, sollte doch Imagination fester Bestandteil jeglicher Forschung und Lehre an Hochschulen sein, oder?
Graupe: Ja, das sollte sie sein, ist es aber leider nicht. Kurz gesagt, ist Imagination die Fähigkeit, sich aus eigenen Erfahrungen und Sinneseindrücken konkrete Bilder der Welt zu machen. Auf Basis lässt sich sodann lernen, realitätsnah zu handeln und bewusst Urteile zu bilden. Die Imagination schafft also gleichsam den fruchtbaren Boden, auf dem Menschen kreativ und praxisnah ihr eigenes Leben ebenso wie die Gesellschaft im Ganzen gestalten können. Doch heutzutage lernt man an den Hochschulen nicht oder kaum, diesen Boden zu bestellen. Stattdessen baut das akademische Wissen großenteils auf festgefügten Bildern auf, über die bereits in der Vergangenheit bestimmt und entschieden wurde, und zwar ohne dass dies kritisch reflektiert würde. Auf diese Weise entsteht eine Art imaginativer Monokultur. Aus einer solchen können aber nur einseitige Wissensbestände erwachsen, die auf konkrete Veränderungsprozesse in der Wirklichkeit nicht eingehen können und insofern äußerst krisenanfällig sind.
Ganz praktisch gefragt: Was werde ich für einen Arbeitsplatz haben in dem ich meine im Studium erworbenes Wissen, mit dem Teilfokus auf Imagination, anwenden kann?
Graupe: Nehmen wir ein konkretes Beispiel aus meinem Bereich, den Hochschulen. Als sich im März der Lockdown abzeichnete, verfielen die meisten Universitäten zunächst in Ungläubigkeit, dann in Schockstarre. Man verschob den Semesterstart, tat zunächst nichts und füllte dann alte Wissensinhalte in neue digitale Schläuche. Im Endeffekt ist die Lehre schlechter geworden als zuvor. In Imagination geschult zu sein, hat mir hingegen als für die Lehre an meiner Hochschule zuständige Vizepräsidentin akut geholfen. Wie wird sich Gesellschaft unter einer Pandemie entwickeln? Einfache Szenarien ließen mich rasch erkennen, dass Abwarten keine Alternative war. Und dann hieß es für mich unmittelbar: Welche neuen Herausforderungen und Chancen stecken in der Krise? Wir haben dann rasend schnell nicht nur Sicherheit für unsere Studierenden geschaffen und als eine der allerersten Hochschulen alle Lehrveranstaltungen digitalisiert, sondern auch neue Lehrformen und -inhalte entworfen, um mit unseren Studierenden die Krise zu erforschen und so ein ganz neues Lernen in Bezug auf die Wahrnehmung und Gestaltung komplexer und unsicherer Situation zu machen. Nicht zuletzt haben wir dafür viel Geld eingeworben und mittlerweile drei große Forschungsprojekte auf den Weg gebracht. „Lernen in Krisenzeiten“, „Lernen nicht trotz, sondern inmitten von Krisen“ – dies alles sind nun Bilder neuer und, wie ich finde, extrem zeitgemäßer Bildungsformen, die wir innerhalb weniger Monate geschaffen haben. Heute sind wir fähig, uns explizit als Bildungseinrichtung zu imaginieren, in der Lehrende und Lernende gemeinsam an Krisen stark werden und sie gemeinsam bewältigen dürfen. In der Wirtschaft würde man sagen, dass ein neuer Purpose, ein neuer Sinn und Zweck entstanden ist.
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