Wirtschaftsphilosophin Silja Graupe
„Die Welt braucht mehr Visionen“
Silja Graupe ist Professorin für Ökonomie und Philosophie und Vizepräsidentin der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. Foto: Pariter Fortis
Seit ungefähr acht Monaten hält die Corona-Pandemie die Welt in Atem. Stefan Haake, Mitbegründer des Family Office Pariter Fortis, spricht im Interview mit der Ökonomie- und Philosophie-Professorin Silja Graupe über das Arbeits- und Privatleben der Zukunft und das Konzept der Imagination.
Haben wir, als Menschen und Gesellschaft, bei all den zum Konsum angebotenen Imaginations-Konserven der Streaming-Dienste, Content-Plattformen und Sozialen Medien die innere Verbindung zur eigenen Vorstellungskraft verloren und sind damit vom Macher zum reinen Follower geschrumpft?
Graupe: Ja, das ist in der Tat eine Gefahr. Vereinfacht gesprochen, drohen wir uns mit dem Konsum der von Ihnen angesprochenen Medien zu bloßen Zweitverwertern gegebener Bilder zu degradieren. Der Zugang zu einer Realität, aus der wir mittels bewusster Sinneswahrnehmung neue Bilder schöpfen könnten, bleibt uns hingegen verwehrt. Allenfalls lassen sich fertige Bilder neu kombinieren....
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Haben wir, als Menschen und Gesellschaft, bei all den zum Konsum angebotenen Imaginations-Konserven der Streaming-Dienste, Content-Plattformen und Sozialen Medien die innere Verbindung zur eigenen Vorstellungskraft verloren und sind damit vom Macher zum reinen Follower geschrumpft?
Graupe: Ja, das ist in der Tat eine Gefahr. Vereinfacht gesprochen, drohen wir uns mit dem Konsum der von Ihnen angesprochenen Medien zu bloßen Zweitverwertern gegebener Bilder zu degradieren. Der Zugang zu einer Realität, aus der wir mittels bewusster Sinneswahrnehmung neue Bilder schöpfen könnten, bleibt uns hingegen verwehrt. Allenfalls lassen sich fertige Bilder neu kombinieren. Eine befreundete Künstlerin macht mit Schülerinnen und Schülern gerne ein einfaches Experiment. Sie hält ein Foto von einem Turnschuh hoch und fragt, was es sei. Die jungen Menschen antworten natürlich spontan: ein Turnschuh. Dann hält sie einen echten Turnschuh hoch und wiederholt die Frage. Nach anfänglicher Verwirrung wird dann schnell klar, dass das Bild vom Turnschuh meist nur weitere Erinnerungsbilder an Kataloge und Konsumtempel hervorruft; der echte Turnschuh aber wird assoziiert mit einem gewonnenen Basketballspiel, einer wohligen Erschöpfung nach einer langen Wanderung mit Freunden – also mit Erlebnissen, die die jungen Menschen aktiv mitgestalten und deren Ergebnis sie beeinflussen konnten.
Ist Imagination also nur etwas für philosophisch vorgebildete, Intellektuelle und hochbegabte Überflieger oder kann ich mir als gestandener Manager Kenntnisse und Fähigkeiten, zum Nutzen meiner Arbeit und meines Unternehmens, immer noch aneignen?
Graupe: Nicolaus Cusanus, Namensgeber meiner Hochschule und einer der großen Universalgelehrten der Renaissance, hat stets betont, dass es gerade der Laie ist, der zu großer Weisheit fähig ist. Der Grund dafür ist, dass seine Imaginationsfähigkeit tatsächlich aus der Realität, aus dem unmittelbaren Leben und Umgang mit den Dingen und Mitmenschen erwächst. Die Intellektuellen hingehen verfügen zwar auch über Vorstellungskräfte – aber sie ziehen diese eher aus abstrakten Scheinwelten – in der Ökonomie etwa zumeist aus mathematischen Modellen und statistisch ausgewerteten Daten. Allgemeiner gesagt: Die Quelle wirklicher Imagination liegt dort, wo Menschen konkret Dinge herstellen und sich gemeinsam für Visionen und Ziele engagieren. Nur leider fehlen die Schulen und Hochschulen, die lehren, diese Quelle auch wirklich zu fassen und ihr Ausdruck und Form zu geben. Theorie und Praxis treten so immer weiter auseinander. Das aber muss nicht sein: Gute Theorie vermag der der imaginativen Praxis zu ihrer eigentlichen Ausdrucks- und Mitteilungsfähigkeit zu verhelfen. So kann es gesellschaftlich zu geteilten Imaginationen und damit zu neuen zukunftsleitenden und letztlich auch zukunftgestaltenden Bildern kommen.
Silja Graupe ist Professorin für Ökonomie und Philosophie und Vizepräsidentin der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung.
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