Interview mit Carsten Roemheld „Zeitenwende am Kapitalmarkt“

DAS INVESTMENT: Herr Roemheld, der Krieg in der Ukraine bestimmt nicht nur das politische Geschehen. Er nimmt auch massiv Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung. Steigende Energiepreise befeuern die Inflation. Sanktionen erschweren den Handel mit Russland. Die Ukraine fällt womöglich als Lebensmittellieferant aus. Transitstrecken für den Welthandel sind bedroht. Wie entwickelt man in einer solchen Lage eine Kapitalmarktstrategie?
Carsten Roemheld: In der Tat ist es extrem schwierig, angesichts der aktuell großen Unsicherheiten fundierte strategische Entscheidungen zu treffen. Wichtig ist es vor allen Dingen, die längerfristige Perspektive nicht aus den Augen zu verlieren, was angesichts der extrem volatilen kurzfristigen Entwicklungen gelegentlich schwerfällt. Zum Beispiel zeigt sich, dass dieser Krieg an den Kapitalmärkten einige Faktoren verstärkt hat, die vorher schon zu beobachten waren, zum Beispiel die Lieferkettenproblematik und die daraufhin steigenden Inflationsraten. Damit sind die Effekte insbesondere hier in Europa viel spürbarer als bei anderen militärischen Auseinandersetzungen. Das alte Sprichwort, politische Märkte haben kurze Beine, wird in dramatischer Weise widerlegt.
Was genau ist denn diesmal anders?
Roemheld: Zunächst das Offensichtliche: Der Westen hat mit nie dagewesenen wirtschaftlichen Sanktionen auf den Einmarsch in die Ukraine geantwortet, die nun die weitere wirtschaftliche Entwicklung in Europa und weltweit stark beeinträchtigen werden. Ich sehe aber eine noch fundamentalere Veränderung, eine regelrechte Zeitenwende, die nicht ohne Folgen für die Kapitalmärkte bleiben wird. Kurz gesagt wird das Börsengeschehen seit wenigen Jahren immer politischer und der Einfluss der Staaten auf das Wirtschaftsgeschehen größer: Der Höhepunkt der Globalisierung und Deregulierung liegt womöglich bereits hinter uns und wir müssen uns auf eine Periode einstellen, in der Kapital und Finanzierungsmittel anders allokiert werden.
Können Sie dafür Beispiele nennen?
Roemheld: Aktuell ist die Beschaffung und Bereitstellung von Energie und Energieinfrastruktur ein extrem relevantes Thema, insbesondere in Deutschland. Nicht zu vergessen sind auch die höheren Ausgaben für Verteidigung, die wir in den kommenden Jahren aufzubringen haben. Die sogenannte Friedensdividende fällt also weg, was ein starkes Umdenken auf politischer Ebene erfordert. Weiterhin fallen sicherlich den meisten die Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus ein, die ja ganze Sektoren wie den Tourismus direkt betroffen haben und darüber hinaus mittelbar bis heute Lieferketten beeinträchtigen. Versuchen Sie beispielsweise mal, ein neues Elektroauto zu kaufen. Die Nachfrage steigt momentan sehr stark an und auch die Lieferzeiten sind immens gestiegen.
Ein anderes Beispiel ist die Regulierung in der Energiewirtschaft. Das war immer schon eine hoch regulierte Industrie, aber inzwischen ist es unseriös, diese Branche zu bewerten, ohne die politischen Vorgaben und internationalen Klimaziele zu beachten. Drittes Beispiel: China. Der Staat hat im vergangenen Jahr mit massiven Staatseingriffen die Fintechs in die Schranken gewiesen, den Immobiliensektor gestutzt und den Markt für außerschulische Bildung und Nachhilfe quasi über Nacht zerstört. Von der Umkehr der Geldpolitik als einem politischen Großthema will ich gar nicht erst reden.
Ist Politik für die Kapitalmärkte vor allem ein Risiko?
Roemheld: Vor allem ist es ein bisher vielfach unterbewerteter Faktor. Das ändert sich nun. Zum Thema Risiko: Auf den ersten Blick mag das so erscheinen. Aber es entstehen auch eine Menge Investment-Chancen durch politisches Handeln. Das Wachstum der Umweltindustrie etwa ist stark vom wachsenden staatlichen Willen zum Klimaschutz geprägt. Es ist daher übrigens auch nicht verwunderlich, dass gerade Nachhaltigkeitsinvestoren zu den Vorreitern gehören bei der Erkenntnis, dass Wirtschaft und Politik immer enger zusammenhängen. Das G in ESG steht ja nicht von ungefähr für Governance – was man etwas freier durchaus mit Unternehmenspolitik übersetzen könnte.
Wie nähern Sie sich politischen Fragen konkret in der Analyse? Die Politik ist ja nicht Ihr angestammtes Fachgebiet.
Roemheld: In der Tat ist es unerlässlich, zur Meinungsbildung die Finanzmarkt-Bubble zu verlassen – für uns Profis, aber auch für unsere Kunden. Deshalb veranstalten wir regelmäßig Webinare mit Politikern, Aktivisten und Experten anderer Fachgebiete. Und in meinem monatlichen Kapitalmarkt-Podcast spreche ich ganz bewusst nicht nur mit Ökonomen, sondern auch mit Historikern, Politikprofis, Soziologen und vielen anderen Menschen, die ganz anders auf diese Welt blicken.
Wie werden aus den großen Zusammenhängen denn konkrete Investment-Entscheidungen? In Ausnahmesituationen wie im Krieg ist das sicher kein leichtes Unterfangen. Selbst, wenn man die Hintergründe versteht.
Roemheld: In einer Krise dieser Dimension fällt es natürlich schwer, ad hoc immer die richtigen Schlüsse zu ziehen. Zugleich ist es aber unsere Aufgabe, professionell auf die vielen Fragen und auch Ängste unserer Kunden einzugehen. Mir sind dabei zwei Dinge wichtig: Erstens glaube ich, dass schnelle Schlüsse nicht helfen, die Dinge zu ordnen und zu verstehen. Gute Entscheidungen brauchen etwas mehr Zeit. Zweitens ist Kapitalmarktstrategie etwas anderes als Taktik. Deshalb schaue ich nicht allein auf die kurzfristigen Marktverwerfungen in der momentanen Ausnahmesituation. Sondern ich versuche, die mittel- und langfristigen Auswirkungen zu erfassen. Das ist für mich auch ein Beitrag zum nachhaltigen Investieren.
Über den Interviewten:
Carsten Roemheld ist Kapitalmarktstratege bei Fidelity International.
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