Thorsten Polleit
Darum ist ein negativer Urzins absurd
Aktualisiert am 17.03.2020 - 15:38 Uhr
Thorsten Polleit ist Chefvolkswirt bei Degussa Goldhandel. Foto: Degussa Goldhandel
Degussa-Chefvolkswirt Thorsten Polleit ist sich sicher, dass es keine negativen Urzinsen gibt und Zentralbanken damit künstlich Banken und Staaten entschulden wollen.
Seit März 2016 ist der Leitzins in der Eurozone bei null Prozent, der Einlagenzins für Banken bei minus 0,4 Prozent. Und nun will die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen noch weiter in den Negativbereich absenken. Im September könnte es so weit sein. Indem die Euro-Zinsen negativ „gemacht“ werden, sollen die Inflation belebt und die Konjunktur gestützt werden, so die offizielle Erklärung. Doch im Kern geht es um etwas anderes: Finanziell überdehnte Staats- und Bankenschuldner sollen entlastet werden. Mit Negativzinsen sollen sie entschuldet, die Euro-Schuldenberge entwertet werden.
Dafür stützt sich der EZB-Rat auf die Empfehlungen, die einflussreiche Ökonomen ausgeheckt haben. Sie...
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Seit März 2016 ist der Leitzins in der Eurozone bei null Prozent, der Einlagenzins für Banken bei minus 0,4 Prozent. Und nun will die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen noch weiter in den Negativbereich absenken. Im September könnte es so weit sein. Indem die Euro-Zinsen negativ „gemacht“ werden, sollen die Inflation belebt und die Konjunktur gestützt werden, so die offizielle Erklärung. Doch im Kern geht es um etwas anderes: Finanziell überdehnte Staats- und Bankenschuldner sollen entlastet werden. Mit Negativzinsen sollen sie entschuldet, die Euro-Schuldenberge entwertet werden.
Dafür stützt sich der EZB-Rat auf die Empfehlungen, die einflussreiche Ökonomen ausgeheckt haben. Sie behaupten, der neue „gleichgewichtige Zins“ (oder auch „neutrale Zins“ oder noch passender: der „Urzins“) sei mittlerweile negativ geworden. Dafür führen sie viele Gründe an wie beispielsweise eine zu hohe Ersparnis und die demografische Überalterung. Die Zinstheorie ist in den Wirtschaftstheorien nun aber nach wie vor ein Zankapfel. Es gibt viele miteinander konkurrierende, sich zuweilen auch widersprechende Vorstellungen über das, was der Zins ist, und wie er sich erklärt.
Doch nur eine Theorie des Zinses kann wirklich überzeugen. Und das ist die Zeit-Präferenztheorie des Zinses, die im Kern auf den Franzosen Anne Robert Jacques Turgot (1727–1781) zurückgeht und nachfolgend durch eine Reihe scharfer Denker weiterentwickelt wurde. Zeitpräferenz bedeutet, dass der Handelnde die frühere Erfüllung seiner Bedürfnisse höher wertschätzt als eine spätere Erfüllung seiner Bedürfnisse; dass er beispielsweise einen Euro, über den er heute verfügt, höher wertschätzt als einen Euro, über den er erst in einem Jahr verfügen wird. Die Manifestation der Zeitpräferenz ist der Urzins, der gewissermaßen in jedem Menschen steckt. Zeitpräferenz und Urzins sind nicht wegzudenkende Kategorien des menschlichen Handelns. Sie sind immer und überall positiv.
Wirklich verstehen kann man das Zinsphänomen vermutlich erst, wenn man die Erkenntnistheorie zur Hilfe nimmt. Sie zeigt, dass es Erkenntnisse gibt, die man nicht widerspruchsfrei verneinen kann, die logisch wahr sind: Indem man sie verneint, setzt man nämlich ihre Gültigkeit schon voraus. Dazu zählen die logischen Denkgesetze wie zum Beispiel „Eine Aussage kann nicht wahr und falsch zugleich sein“. Zu den logisch nicht bestreitbaren Erkenntnissen zählen im Bereich des menschlichen Handelns Zeitpräferenz und Urzins. Der Königsberger Philo-soph Immanuel Kant (1724–1804), der Kritiker der reinen Vernunft, würde sie vermutlich als Bedingungen der Möglichkeit objektiver Erfahrung bezeichnen.
Das Phänomen des Zinses lässt sich widerspruchsfrei durch die Logik des menschlichen Handelns verstehen. Die Erklärung beginnt mit der nicht widerlegbaren Aussage „Der Mensch handelt.“ (Wer sagt, der Mensch handelt nicht, der handelt und widerspricht dem Gesagten.) Aus ihr lässt sich folgern, dass Handeln stets zielbezogen ist. (Auch das lässt sich nicht widerspruchsfrei verneinen.) Und weiter: Wer handelt, der muss Mittel einsetzen, um Ziele zu erreichen, und Mittel sind stets knapp. Zeit ist ein unverzichtbares Mittel. Zeitloses Handeln lässt sich nicht widerspruchsfrei denken. Weil Handeln Knappheit impliziert, wertet der Handelnde notwendigerweise einen größeren Gütervorrat (mehr Mittel) höher als einen kleineren Gütervorrat (weniger Mittel).
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