Thorsten Polleit
Darum ist ein negativer Urzins absurd
Aktualisiert am 17.03.2020 - 15:38 Uhr
Thorsten Polleit ist Chefvolkswirt bei Degussa Goldhandel. Foto: Degussa Goldhandel
Degussa-Chefvolkswirt Thorsten Polleit ist sich sicher, dass es keine negativen Urzinsen gibt und Zentralbanken damit künstlich Banken und Staaten entschulden wollen.
Weil Zeit ein knappes Mittel ist, zieht der Handelnde auch eine frühere Zielerreichung einer späteren vor. Darin kommt die Zeitpräferenz zum Ausdruck. Ihre Manifestation ist der Urzins. Er steht für den Wertabschlag, den die spätere Erfüllung der Bedürfnisse gegenüber der früheren Erfüllung der Bedürfnisse (von gleicher Art und Güter und unter gleichen Bedingungen) erleidet. Zeitpräferenz und Urzins sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich, und sie können sich auch im Zeitablauf verändern; sie können sich zum Beispiel in Richtung der Nulllinie bewegen. Aber Zeitpräferenz und Urzins können niemals null oder negativ werden; sie lassen sich aus dem Werten und Handeln der Mensch nicht wegdenken.
Man...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
Da diese Artikel nur für Profis gedacht sind, bitten wir Sie, sich einmalig anzumelden und einige berufliche Angaben zu machen. Geht ganz schnell und ist selbstverständlich kostenlos.
Weil Zeit ein knappes Mittel ist, zieht der Handelnde auch eine frühere Zielerreichung einer späteren vor. Darin kommt die Zeitpräferenz zum Ausdruck. Ihre Manifestation ist der Urzins. Er steht für den Wertabschlag, den die spätere Erfüllung der Bedürfnisse gegenüber der früheren Erfüllung der Bedürfnisse (von gleicher Art und Güter und unter gleichen Bedingungen) erleidet. Zeitpräferenz und Urzins sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich, und sie können sich auch im Zeitablauf verändern; sie können sich zum Beispiel in Richtung der Nulllinie bewegen. Aber Zeitpräferenz und Urzins können niemals null oder negativ werden; sie lassen sich aus dem Werten und Handeln der Mensch nicht wegdenken.
Man durchdenke dazu nur einmal Folgendes: Wenn der persönliche Urzins null Prozent wäre, man also keine Zeitpräferenz hätten, würden man daher aus Einkommen nichts mehr konsumieren und alles sparen und investieren, um dadurch ein künftig größeres Güterangebot genießen zu können: Man konsumiert heute nicht, morgen nicht, nicht in einem Jahr, nicht in zehn Jahren. Eine völlig absurde Vorstellung! Ein weiteres Beispiel: Ein Urzins von null Prozent würde die Grundstückspreise, die sich aus der Abzinsung aller künftigen Bodenrenten ergeben, ins Unendliche treiben. Wer sagt, der Urzins sei null, der verneint implizit damit, dass die Mittel knapp sind – und das ist als logisch falsch einsehbar. Und erst ein negativer Urzins: Er ist handlungslogisch gar nicht sinnvoll denkbar für den logischen Menschenverstand.
Die vielen Beispiele, die Hauptstrom-Ökonomen aufbieten, um einen negativen Urzins zu begründen, können nicht überzeugen. Wenn sich etwa der Goldmarkt im Contango befindet (der Terminpreis übersteigt den Kassapreis), bedeutet das nicht, dass Zeitpräferenz und Urzins der Marktakteure negativ sind. Und beide sind auch dann nicht negativ, wenn der Preis, den man für Eis im nächsten Sommer bereit ist zu zahlen, höher ist als heute im Winter. In diesen Beispielen kommt nämlich zusätzlich zum Urzins (der stets und überall positiv ist) noch ein Faktor in der Wertbestimmung zum Tragen, der die Handlungsbedingungen zu dem Zeitpunkt berücksichtigt, an dem gehandelt wird („Timing of the use of the good“, darauf hat Frank A. Fetter (1863–1949) hingewiesen).
In „Reinform“ zeigt sich der Urzins nur im Tausch einer gegenwärtig verfügbaren Geldeinheit gegen eine erst künftig verfügbare Geldeinheit, also im Kreditmarkt (genauer: Zeitmarkt), nicht aber im intertemporalen Tausch von Sachgütern. Es mag also durchaus Pensionäre geben, die sich heute gut versorgt fühlen und denen ihre künftige Güterausstattung wichtiger wird als die gegenwärtige. Aber auch für sie gilt die Logik des Handelns: Eine heute verfügbare Geldeinheit wird denknotwendig höher gewertet als dieselbe Geldeinheit, die erst in der Zukunft erhältlich ist: Die Pensionäre werten einen Euro heute höher als einen Euro (und selbstverständlich auch als 0,95 Euro) in zehn Jahren, denn ihr Urzins ist positiv, er kann aus handlungslogischen Gründen nicht null oder negativ sein.
Die Theorie, dass der „soziale Urzins“ der gesamten Volkswirtschaften negativ geworden sei, und die Zentralbank müsste deshalb auch den Marktzins negativ „machen“, ist daher eine falsche Theorie. Dass im Euroraum viele Marktzinsen bereits im Negativbereich angekommen sind, ist die Folge der EZB-Geldpolitik. Sie hat durch ihre Leitzinssenkungen und Schuldpapierkäufe viele Marktzinsen unter die Nulllinie gedrückt. Die negativen Marktrenditen sind also nicht auf natürlichem Weg zustande gekommen, sondern auf einem ganz und gar unnatürlichen Weg: Das EZB-Geldmonopol hat sie hervorgebracht. Ein Negativzins führt daher auch keine Gleichgewichtssituation herbei, sondern sie sorgt für folgenschwere
Störungen.
Wie hat Ihnen der Artikel gefallen?
Über den Autor