Ziemlich beste Freunde Populismus und Zusammenhalt – so steht es um die EU
Wenige Wochen vor der Europawahl hat Victor Orbán längst Betriebstemperatur erreicht: „Die Brüsseler Politiker leben in einer Blase“, behauptete der ungarische Ministerpräsident im staatlichen Rundfunk des Landes. In Europa herrsche eine Bürokraten-Elite, so Orbán, die den Bezug zur Realität verloren habe. Zugleich rief er seine Landsleute auf, im Mai die von ihm geführte Fidesz-Partei zu wählen. Mit dem Urnengang könnten die Menschen verhindern, dass Parteien, die sich Linken und Liberalen andienen, über das Land und Europa bestimmten.
Gerade dieser Vorwurf zeigt, wie tief der Riss im europäischen Gefüge geht, schließlich richtet er sich gegen andere konservative Parteien wie die CSU, mit der Orbán in der Vergangenheit Seite an Seite Wahlkampf gemacht hat.
Aggressive Töne aus Ungarn
Wie konnte es so weit kommen? Dass der Regierungschef mit Anti-EU-Propaganda auf Wählerfang für die Europawahl geht, stellt keine Premiere, sondern die jüngste Eskalationsstufe dar. Das Drama begann, als Orbán Ungarn mit Plakaten überziehen ließ, die EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und US-Milliardär George Soros mit einer verunglimpfenden Fotomontage darstellten. Darunter war sinngemäß zu lesen, das Duo fördere illegale Flüchtlingsströme Richtung Europa. Soros ist ungarischer Herkunft und tritt für Bildung, Demokratie und Menschenrechte ein, was ihn zu einem Feindbild für Orbán und seine Anhänger macht.
Als auch europäische Christdemokraten wie CSU-Mann Manfred Weber, mit denen die Fidesz-Partei gemeinsam als EVP im europäischen Parlament sitzt, Kritik an der Aktion übten, warf Orbán ihnen vor, nur „nützliche Idioten“ zu sein und sich vor den Karren von Liberalen und Linken spannen zu lassen. Erst als der Rausschmiss seiner Partei aus der EVP unmittelbar bevorstand, ließ Orbán die Plakate abnehmen. Das verhinderte aber nicht mehr, dass die EVP die Mitgliedschaft der Fidesz-Partei vorerst aussetzt. Der große Unmut selbst unter Parteifreunden ficht Orbán indes wenig an. Längst hat er angekündigt, seine umstrittene Plakataktion wieder aufleben zu lassen.
Das Kalkül ist klar: Der Kampf gegen angebliche europäische Verschwörer führt gerade in sozial gebeutelten Ländern schnell zu reichlich Zuspruch vom Wahlvolk. Bestes Beispiel ist Italien, wo der Dauerzwist mit Brüssel um den Staatshaushalt der amtierenden Rechts-Links-Regierung historisch einmalige Zustimmungswerte beschert. Wenn Politiker dieses Spiel aber übertreiben, entgleitet ihnen die Kontrolle. So geschehen beim Brexit, der nun als konjunkturelles Desaster auf Großbritannien zukommt. Immer mehr Unternehmen beginnen, sich für einen Austritt ohne regelnden Vertrag zu wappnen: „Sie stocken ihre Lagerhaltung auf und treffen andere Notfallmaßnahmen. Vor einem Jahr gab es so etwas noch nicht“, berichtet Ken Hsia, Portfoliomanager beim Fondsanbieter Investec AM.
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Brexit als abschreckendes Beispiel
Vorausschauendes Handeln ist aber keine europäische Tugend: Trotz ordentlichen Wirtschaftswachstums und staatlicher Sparmaßnahmen baut von den fünf größten EU-Volkswirtschaften lediglich Deutschland in nennenswertem Umfang Schulden ab. Solange sich die Staatsfinanzen nicht verbessern, bleibt allerdings unklar, wie schnell sich die Geldpolitik nach der langen expansiven Phase normalisieren kann.
Zumindest sehen die Haushaltssalden der kleineren Länder in Nord- und Osteuropa besser aus als die der großen. Besserung ist kaum in Sicht, wie die von den Gelbwesten erzwungenen steigenden Staatsausgaben in Frankreich sowie die Haushaltspläne der populistischen Regierung Italiens zeigen. „Zweifellos wird Frankreich das Maastricht-Kriterium verletzen, zu dessen Einhaltung die EU Italien zwingt“, sagt Hsia, sieht aber bei allem Populismus einen Silberstreif am Horizont: Der Brexit dürfte den europäischen Wählern die Nachteile eines EU-Austritts vor Augen halten, sodass eine weitere Fragmentierung unwahrscheinlicher werde.
Die Spitze steht plakativ zusammen
Dafür trüben sich die Aussichten in den Chefetagen des Euroraums ein. Der Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe ist im März unerwartet auf 47,6 eingebrochen. Ein solch niedriger Wert sei in der Regel nur in Rezessionszeiten zu beobachten, sagt Commerzbank-Analyst Christoph Weil: „Eine Erholung der Konjunktur im Verlauf der ersten Jahreshälfte ist nach den aktuellen Daten noch unwahrscheinlicher geworden.“
Dass in London Chaos herrscht und die Peripherie den Aufstand probt, hat aber ein Gutes. Die Politik-Elite in Frankreich, Brüssel und Berlin demonstriert nun plakativ ihren Zusammenhalt. Anlässlich des Besuchs von Chinas Präsident Xi Jinping in Nizza hat Staatschef Emmanuel Macron ein Treffen anberaumt, wie es so noch nie stattfand, indem er auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker einlud. Das Zeichen ist klar: Europa zieht an einem Strang.