Soziologe Stefan Liebig
Was empfinden Deutsche als gerecht?
Stefan Liebig leitet die Langzeitstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Foto: DIW Berlin / F. Schuh
Die Stimmverluste der großen Volksparteien bei den jüngsten Landtagswahlen werden in der öffentlichen Debatte gern als Indizien einer politischen Spaltung der Gesellschaft bewertet. Wie weit die grundlegenden Einstellungen der Wählergruppen hierzulande wirklich auseinanderliegen, hat der Soziologe Stefan Liebig am Beispiel Gerechtigkeit untersucht.
Die Gerechtigkeitsprofile der Parteien können nur teilweise durch Alter, Geschlecht, Bildung und Wohnort ihrer Wählerschaft erklärt werden Eine offene Frage bleibt, ob die einzelnen Parteien tatsächlich Personen mit bestimmten Verteilungspräferenzen anziehen oder ob die gefundenen Unterschiede anders zu erklären sind. Die Unterschiede zwischen der Wählerschaft der jeweiligen Parteien könnten auch auf ihre soziale und demografische Zusammensetzung zurückgehen. So könnte eine Partei von überdurchschnittlich vielen Frauen gewählt werden. Wenn sich Frauen von Männern in ihrem „Gerechtigkeitsprofil“ unterscheiden, indem sie im Durchschnitt beispielsweise eher das Gleichheitsprinzip unterstützen, würde...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
Da diese Artikel nur für Profis gedacht sind, bitten wir Sie, sich einmalig anzumelden und einige berufliche Angaben zu machen. Geht ganz schnell und ist selbstverständlich kostenlos.
Die Gerechtigkeitsprofile der Parteien können nur teilweise durch Alter, Geschlecht, Bildung und Wohnort ihrer Wählerschaft erklärt werden
Eine offene Frage bleibt, ob die einzelnen Parteien tatsächlich Personen mit bestimmten Verteilungspräferenzen anziehen oder ob die gefundenen Unterschiede anders zu erklären sind. Die Unterschiede zwischen der Wählerschaft der jeweiligen Parteien könnten auch auf ihre soziale und demografische Zusammensetzung zurückgehen. So könnte eine Partei von überdurchschnittlich vielen Frauen gewählt werden. Wenn sich Frauen von Männern in ihrem „Gerechtigkeitsprofil“ unterscheiden, indem sie im Durchschnitt beispielsweise eher das Gleichheitsprinzip unterstützen, würde dies ein entsprechendes Parteiprofil erklären. In diesem Fall wäre eine Präferenz für das Gleichheitsprinzip jedoch nicht ausschlaggebend dafür, dass die Partei gewählt wurde.
Um diese Frage zu beantworten, wurden auf Grundlage der gesammelten Daten multivariate Regressionsanalysen durchgeführt. Diese sagen die Wahrscheinlichkeit vorher, mit der eine Person eine bestimmte Partei anstelle einer anderen Partei wählt. So kann analysiert werden, ob die Unterstützung oder Ablehnung eines Verteilungsprinzips einen eigenständigen Effekt auf die berichtete Parteipräferenz hat, wenn Alter, Geschlecht, Bildung und Wohnort in Ost- oder Westdeutschland konstant gehalten werden.
Das Gerechtigkeitsprofil der UnionswählerInnen bleibt auch in der Regressionsanalyse bestehen. Eine geringe Zustimmung zum Gleichheitsprinzip sowie eine positivere Bewertung des Anrechtsprinzips gehen also mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einher, die Unionsparteien zu unterstützen. Die Einstellung zum Gleichheitsprinzip ist für die Wahl der SPD und der Linken relevant. Eine besonders starke Ablehnung des Anrechtsprinzips wirkt sich außerdem signifikant positiv auf die Wahrscheinlichkeit aus, bei der nächsten Bundestagswahl die Linke wählen zu wollen. Eine stärkere Unterstützung des Gleichheitsprinzips sowie eine etwas weniger starke Präferenz für das Leistungsprinzip zeigen sich auch dann, wenn die soziodemografische Zusammensetzung der Wählergruppe berücksichtigt wird.
Für die Wahrscheinlichkeit, die Grünen zu unterstützen, ist in der Regressionsanalyse hingegen einzig eine stärkere Betonung des Bedarfsprinzips relevant. Die eingangs beschriebene etwas stärkere Ablehnung des Anrechtsprinzips in der Wählerschaft der Grünen zeigt jedoch keinen statistisch bedeutsamen Effekt. Bei den FDP-WählerInnen lassen sich deutliche Kompositionseffekte beobachten. Eine besonders starke Präferenz für das Leistungsprinzip hat einen signifikant positiven Effekt auf die Wahrscheinlichkeit, die FDP wählen zu wollen. Die eingangs beschriebene Bevorzugung des Anrechtsprinzips in der FDP-Wählerschaft zeigt hingegen keinen statistisch bedeutsamen Effekt.
Die deutlichsten Kompositionseffekte ergeben sich für AfD-Wählerinnen: Wird die Zusammensetzung dieser Wählergruppe nach Alter, Geschlecht, Bildung und Wohnort berücksichtigt, zeigt sich keine Präferenz mehr für das Gleichheitsprinzip. Stattdessen wird das Leistungsprinzip bevorzugt und das Bedarfsprinzip eher abgelehnt. Die etwas stärkere Ablehnung des Anrechtsprinzips bleibt hingegen bestehen.
Über den Autor