Ökonom Fabrizio Pagani
Kurswechsel bei Zentralbanken
Leitet die internationale Kapitalanlagestrategie der Fondsgesellschaft Muzinich: Fabrizio Pagani Foto: Muzinich
Zentralbanken setzen sich heutzutage nicht mehr nur mit geldpolitischen Instrumenten auseinander. Vor welchen neuen Herausforderungen Fed, EZB & Co. stehen, erklärt Ökonom Fabrizio Pagani von der Fondsgesellschaft Muzinich.
Das Zentralbankwesen steht vor drei drängenden Herausforderungen: Verschuldung, Digitalisierung und Klima. Wir glauben, dass die Zentralbanken durch diese Herausforderungen die Geldpolitik und die Rolle des Zentralbankwesens in der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt verändern werden. Seit der Großen Finanzkrise 2007/2008 haben die Zentralbanken das geldpolitische Instrumentarium durch die Einführung neuer unkonventioneller Instrumente und die Weiterentwicklung bestehender Instrumente bereichert. Unter den unkonventionellen Maßnahmen sticht die quantitative Lockerung hervor. Nach der Definition von Ben Bernanke bezeichnet „quantitative Lockerung den Kauf von Wertpapieren durch die Zentralbank...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
Da diese Artikel nur für Profis gedacht sind, bitten wir Sie, sich einmalig anzumelden und einige berufliche Angaben zu machen. Geht ganz schnell und ist selbstverständlich kostenlos.
Das Zentralbankwesen steht vor drei drängenden Herausforderungen: Verschuldung, Digitalisierung und Klima. Wir glauben, dass die Zentralbanken durch diese Herausforderungen die Geldpolitik und die Rolle des Zentralbankwesens in der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt verändern werden. Seit der Großen Finanzkrise 2007/2008 haben die Zentralbanken das geldpolitische Instrumentarium durch die Einführung neuer unkonventioneller Instrumente und die Weiterentwicklung bestehender Instrumente bereichert. Unter den unkonventionellen Maßnahmen sticht die quantitative Lockerung hervor. Nach der Definition von Ben Bernanke bezeichnet „quantitative Lockerung den Kauf von Wertpapieren durch die Zentralbank am offenen Markt, der durch die Schaffung von Bankreserven bei der Zentralbank finanziert wird.“1
Wichtige Zentralbanken haben in den Jahren nach der Finanzkrise quantitative Lockerung betrieben und als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie weiter massiv auf diese zurückgegriffen. So auch die Federal Reserve (Fed), die Europäische Zentralbank (EZB), die Bank of England und die Bank of Japan.
In den letzten zehn Jahren sind die Zentralbankbilanzen dramatisch gewachsen. So belief sich beispielsweise der Betrag der vom Eurosystem über seine verschiedenen Programme (APP und PEPP) gekauften Anleihen Mitte April 2021 auf rund 4.000 Milliarden Euro.2 Mehr als 75 Prozent der von der EZB gehaltenen Wertpapiere sind Staatsanleihen, deren Ankauf in erheblichem Umfang bis mindestens Ende März 2022 fortgesetzt wird. So bläht sich ihre Bilanz weiter auf. Ebenfalls beliefen sich im April 2021 die im Besitz der Fed befindlichen Vermögenswerte auf mehr als 7.700 Milliarden US-Dollar. Das entspricht einer beeindruckenden Verneunfachung seit Anfang 2008.3 Die EZB und die Fed werden am Ende zwischen 25 Prozent und 30 Prozent der Schulden ihrer Regierungen besitzen, die Bank of Japan über 40 Prozent.
Diese Verschuldung wirft existenzielle Fragen auf, die weit über die Frage nach der Dauer der Verlängerung der aktuellen Kaufprogramme hinausgehen. Werden die Zentralbanken sie auf unbestimmte Zeit verlängern und möglicherweise die Laufzeit ausdehnen? Werden diese Schulden schließlich unbefristet gemacht oder sogar gestrichen, wie vorgeschlagen wurde? Wird die EZB im Falle der Europäischen Union nach und nach die nationalen Schulden durch supranationale ersetzen, die von der Kommission im Rahmen von Programmen wie dem Wiederaufbaufonds („Next Generation EU“) ausgegeben werden?
Jede Zentralbank hat ihr eigenes Mandat, ihre eigene Kultur und ihre eigenen Praktiken; diese Fragen können je nach Rechtsprechung zu möglicherweise engen, technischen Antworten führen. Es gibt jedoch eine allgemeine Fragestellung zur langfristigen Rolle der Zentralbanken angesichts der zunehmenden Staatsverschuldung und der steigenden Höhe der sich in ihrem Besitz befindlichen Staatsschulden. Vielleicht haben wir noch nicht den Zeitpunkt erreicht, diese vollständig zu beantworten.
Digitalisierung – eine Revolution auch für Zentralbanken?
In den letzten Jahren haben wir eine beschleunigte Digitalisierung in allen Bereichen der Wirtschaft und innerhalb der Gesellschaft im weiteren Sinne erlebt. Es findet eine technologische Revolution statt; Geld konnte davon nicht unberührt bleiben. In der Tat ist es nicht das erste Mal, dass Geld eine radikale technologische Transformation durchläuft. Jede Transformation, wie beispielsweise von Goldmünzen zu Banknoten, hatte ihre eigenen Herausforderungen.
Es herrscht viel Verwirrung, wie die Digitalisierung des Geldes genau definiert wird. Es handelt sich um einen Begriff, der verschiedene Phänomene umfasst. Dazu gehören elektronische Zahlungssysteme – die erfolgreichsten Systeme sind dabei die digitalen Geldbörsen von Chinas Wechat und Alipay – und die aufkommende Reihe von Fiat-Kryptowährungen, wie der beliebte Bitcoin und „Stablecoins“ auf Blockchain. Zu nennen wäre auch die Möglichkeit, dass Zentralbanken digitale Währungen ausgeben.
Zentralbanken und Regierungen auf der ganzen Welt erwägen die Einführung von digitalen Zentralbankwährungen (CBDC).4 Seit einiger Zeit versucht die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), Klarheit zu schaffen und eine erste Taxonomie zu erstellen.5 Zentralbanker sind bestrebt, den Unterschied zwischen CBDCs und Kryptowährungen zu betonen, die sie lieber als Krypto-Assets bezeichnen. Wir glauben, dass sich eine offizielle Betrachtungsweise herausbildet, die digitale Währungen im Großen und Ganzen als von einer zentralen Behörde abhängig und mit einer physischen Währung, wie dem US-Dollar oder dem Euro, verbunden sieht. Im Gegensatz dazu werden Kryptowährungen näher an Investitionen als an Geld betrachtet und werden dezentral von privaten Akteuren „gemint“ oder „produziert“.
Über den Autor