Volkswirt Thorsten Polleit
Was die hohe Inflation für die Wirtschaft bedeutet

Volkswirt Thorsten Polleit
Odysseus und seine Mitstreiter mussten, so die Sage, auf ihrem Weg in die Heimat eine Meeresenge passieren. Auf der einen Seite lauerte Skylla, ein grässliches Meeresungeheuer, das alle, die ihm zu nahekamen, verschlang. Auf der anderen Seite war Charybdis, ein gestaltloses Scheusal, das ein paar Mal am Tag das Meerwasser und mit ihm alles, was sich darin befand, einsog und es anschließend wied...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Odysseus und seine Mitstreiter mussten, so die Sage, auf ihrem Weg in die Heimat eine Meeresenge passieren. Auf der einen Seite lauerte Skylla, ein grässliches Meeresungeheuer, das alle, die ihm zu nahekamen, verschlang. Auf der anderen Seite war Charybdis, ein gestaltloses Scheusal, das ein paar Mal am Tag das Meerwasser und mit ihm alles, was sich darin befand, einsog und es anschließend wieder ausspukte. Dem Rat der Göttin Kirke folgend, meidet Odysseus Charybdis, gerät dabei aber unweigerlich so nahe an Skylla heran, dass sie sechs seiner Gefährten tötet und frisst. Odysseus und die anderen überleben. Und die Moral? Manchmal kommt man nicht ungeschoren davon, und man muss versuchen, das kleinere Übel zu wählen; man entkommt im Leben manchmal leider doch nicht allen Heimsuchungen.
Das ist vermutlich auch eine Sorge, die viele Investoren derzeit umtreibt. Sie fragen sich: Lässt sich die Hochinflation in die Knie zwingen, ohne dass die Zentralbanken eine Rezession herbeiführen? Ist es vielleicht doch möglich, Hochinflation und gleichzeitig Wirtschaftswachstum zu haben? Gerade in Zeiten der Hochinflation wird es umso wichtiger für viele Menschen, dass die Konjunktur weiterläuft, dass Betriebe weiter produzieren, dass Arbeitsplätze und Einkommen erhalten bleiben. Die hartnäckige Hochinflation, so erfahren immer mehr Menschen am eigenen Leib, ist aber nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein schmerzliches soziales und moralisches Problem für die Volkswirtschaften.
Um die einleitend genannten Fragen zu beantworten, muss man sich zunächst über die besondere Wirkung der Inflation Klarheit verschaffen. Inflation – also das fortgesetzte Ansteigen der Güterpreise auf breiter Front – ist ein höchst kompliziertes Phänomen, das in all seinen Ausprägungen nicht immer bekannt und voll verstanden wird. Denkt man über Inflation nach, so steht am Anfang die folgende Einsicht: Inflation wirkt auf das Handeln und Wirtschaften der Menschen ein, indem sie die Preissignale verfälscht, die Menschen über die wahren Knappheitsverhältnisse täuscht, sie zu irrtümlichen Handlungen verleitet.
Erstes Beispiel: Inflation treibt die Güterpreise auf breiter Front in die Höhe. Wenn die Preise der Güter, die ein Unternehmer erzeugt, in die Höhe klettern, wertet er das üblicherweise als ein Signal, dass seine Güter ganz offensichtlich stark nachgefragt werden, und dass es lohnend für ihn ist, die Produktion seiner Erzeugnisse auszuweiten. Doch wenn es Inflation gibt, macht nicht nur er diese Erfahrung und reagiert in dieser Weise, allen anderen Unternehmern geht es genauso. Das wirkt meist belebend auf die Konjunktur: Die Produktion steigt, die Beschäftigung nimmt zu, die Gewinne sprudeln und die Löhne ziehen an. Doch das ist nur vorübergehend so, wie das zweite Beispiel verdeutlicht.
Zweites Beispiel: Nur wenn die Inflation überraschend kommt, erzeugt sie die voranstehend beschriebene belebende Wirkung. Nehmen wir an, die Menschen haben ihre Lohn-, Miet- und Kreditverträge abgeschlossen mit der Erwartung, dass die künftige Inflation bei, sagen wir, 2 Prozent pro Jahr liegt. Tritt genau das ein, werden also die Erwartungen erfüllt, wird keiner der Vertragsparteien besser oder schlechter gestellt. Wenn die Inflation jedoch unerwartet höher ausfällt, sagen wir, 5 Prozent pro Jahr erreicht, gibt es Gewinner und Verlierer. Beispielsweise gewinnt der Schuldner auf Kosten der Gläubiger. Er kann seine Schulden mit einem Geld zurückzahlen, das weniger Kaufkraft hat als das Geld, das er sich geliehen hat.
Wenn die Menschen von der Inflation überrascht wurden, dann werden sie allerdings daraus ihre Schlüsse ziehen. Gelangen sie zur Auffassung, dass die überraschend hohe Inflation eine einmalige Sache war, die sich nicht wiederholt, dass also die Inflation wieder zur bisher erwarteten Höhe zurückkehrt, wird es keine grundlegende Erwartungsänderung geben, und folglich bleiben weitergehende Preiseffekte bei den Gütern aus. Das Bild ändert sich jedoch, wenn die Menschen davon ausgehen, dass die Inflation hoch bleibt, beziehungsweise dass Regierung und Zentralbank die Wirtschaft mit inflationären Effekten in Gang halten wollen.
Erwarten die Menschen, dass die Inflation fortan höher ausfällt als bislang von der Zentralbank versprochen, passen sie ihre Verträge an, legen ihnen eine höhere Inflation zugrunde – beispielsweise eine Inflation von 5 Prozent anstatt bisher 2 Prozent. Haben sich die Inflationserwartungen nach oben angepasst, und entspricht sie der tatsächlichen künftigen Inflation, verliert die Inflation von 5 Prozent ihre Anschubwirkung. Der bisherige Konjunkturaufschwung, der durch die „Überraschungsinflation“ angetrieben wurde, ebbt ab, kippt womöglich in eine Rezession um. Die erhöhte Inflation hat keine wirtschaftsbelebende Wirkung mehr.
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