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Vorschlag zur Umsetzung
Warum wir einen Marktstandard für die ESG-Abfrage brauchen
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Vorschlag zur Umsetzung Warum wir einen Marktstandard für die ESG-Abfrage brauchen

Geschäftliches Gespräch
Geschäftliches Gespräch: Das Thema Nachhaltigkeit soll laut EU-Maßgabe auch in der Finanzberatung Fuß fassen. | Foto: Imago Images / Westend61
Lars Gentz
Lars Gentz © Walnut GmbH und Co. KG

Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten im Supermarkt und haben zwei verschiedene Müsliriegel im Sortiment. Eine Kundin kommt auf Sie zu, erklärt, dass sie sich gesünder ernähren möchte, und fragt, welchen der beiden Riegel Sie empfehlen können. Wie gehen Sie vor? Sie schauen vermutlich zur Nährwerttabelle auf der Rückseite, die für vorverpackte Lebensmittel EU-weit Pflicht ist. Sie listet standardisiert die enthaltenen Inhaltsstoffe pro 100 Gramm auf. Nach kurzem Vergleich können Sie auf dieser Basis eine Empfehlung aussprechen.

Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie müssten jeden Supermarkt-Kunden proaktiv befragen, inwiefern er sich gesund ernähren möchte, bevor Sie einen passenden Müsliriegel für den Kauf herausgeben dürfen. Doch anstelle der einheitlichen Nährstofftabelle kommt jedes Produkt mit einer anderen Darstellung der Inhaltsstoffe daher: mal Tabelle, mal Piktogramme, mal Fließtext.

Ersetzen Sie das Supermarkt-Setting durch die Anlageberatung und Sie haben den Status Quo von Finanzberaterinnen und Finanzberatern. Seit dem 2. August 2022 müssen diese ihre Kunden fragen, wie sie es mit der Nachhaltigkeit bei der Geldanlage halten möchten, und Finanzprodukte empfehlen, die zu den ESG-Präferenzen ihrer Kunden passen. Die Idee dahinter: Kapitalströme sollen verstärkt in Investitionen geleitet werden, die nachhaltiges Wachstum schaffen.

 

Finanzanlagenvermittler nach Paragraf 34f Gewerbeordnung (GewO) und Honorar-Finanzanlagenberater nach Paragraf 34h GewO waren zunächst von dieser Regelung ausgenommen. Seit 20. April stehen sie ebenso wie ihre Kollegen aus den Banken in der Pflicht. Gemessen an der Tragweite dieser Entscheidung war es in den letzten Wochen überraschend ruhig.

Mit einem einfachen „Ja, ich will“ ist es nicht getan

Die komplexen Regelwerke bei der Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen können Berater vor erhebliche Herausforderungen stellen. Sie müssen erfassen, inwiefern und in welchem Umfang ein Anlageprodukt nachhaltige Investitionen gemäß EU-Taxonomie oder im Sinne der EU-Offenlegungsverordnung abdecken soll und inwiefern „nachteilige Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren“ (Principal Adverse Impacts) berücksichtigt werden müssen. Das heißt, es ist nicht mit einem einfachen „Ja, ich will nachhaltig investieren“ getan. Vielmehr müssen Berater ihren Kunden die Möglichkeit geben, über den Detailgrad ihrer Angaben frei zu entscheiden.

Was das in der Praxis bedeutet, verdeutlicht besonders die Abfrage der Principal Adverse Impacts (PAI): Derzeit gibt es 64 verschiedene Indikatoren für die nachteiligen Nachhaltigkeitsauswirkungen. Darunter sind Indikatoren etwa zu Treibhausgasemissionen, zum Engagement in fossilen Brennstoffen, zur Geschlechtervielfalt und vielem mehr. Auf Wunsch muss der Kunde zu jedem einzelnen dieser Punkte individuelle Angaben machen können. Beraterinnen und Berater sollten also grundsätzlich in der Lage sein, die Indikatoren zu erläutern.

Übersetzt in die Supermarkt-Analogie hieße das: Der Kunde kann zu sämtlichen denkbaren Inhaltsstoffen eines gewünschten Müsliriegels detaillierte Vorgaben machen – etwa, dass der Zuckerbestandteil höchstens fünf Prozent betragen oder der Riegel keine Erdnüsse enthalten darf. Und der Verkäufer muss in seinem Sortiment ein Produkt finden, dass diesen Anforderungen möglichst genau entspricht.

Mammut-Aufgabe für Berater und Produktanbieter

Für Entwickler von vertriebsunterstützenden Software-Tools ist die Komplexität der ESG-Abfrage zunächst eine gute Nachricht. Analog – mit ausgedruckten Formularen – sind die regulatorischen Anforderungen nur unter hohem Aufwand sauber zu bewältigen. Die Print-Version der ESG-Abfrage würde in der Blanko-Version regelmäßig zig Seiten umfassen, selbst wenn Kunden nicht alle Fragen im Detail beantworten wollen.

Digitale Tools dagegen zeigen jeweils nur die notwendigen Abfragen an und sorgen damit für deutlich schlankere Prozesse. Auch wir haben, wie viele andere Anbieter von vertriebsunterstützender Software, daher ein Modul in unserer Online-Beratungsplattform Walnut Live ergänzt, das Berater und Kunden rechtskonform und intuitiv verständlich durch die ESG-Abfrage führt, die Angaben entsprechend dokumentiert sowie Erklärungen zu den einzelnen Punkten enthält. Die Komplexität dieser Regulierung führt uns und unseren Wettbewerbern also tendenziell neue Nutzerinnen und Nutzer zu.

 

Der spannende Moment folgt aber, sobald die Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen gelaufen ist: Denn Berater müssen nun auf Basis der Antworten ihrer Kunden passende Produkte finden, die den Angaben entsprechen und diese außerdem detailliert im Rahmen der Geeignetheitserklärung dokumentieren. Hierbei gibt es in der Praxis zwei grundlegende Probleme:

  1. Die Komplexität der regulatorischen Vorgaben hat zwangsläufig dazu geführt, dass verschiedene Lösungen für die ESG-Abfrage die geforderten Daten unterschiedlich erfassen und strukturieren. Berater müssen die Daten nun mit den ebenfalls unterschiedlich aufbereiteten Nachhaltigkeitsprofilen der Produkte abgleichen – eine Sisyphusarbeit.
  2. Aktuell bleiben bei der ESG-Abfrage regelmäßig nur wenige oder gar keine Produkte übrig, die den Vorstellungen der Kunden von einer nachhaltigen Kapitalanlage entsprechen und dazu auch deren Anlageziel, Anlagehorizont und Risikoprofil. Oder, um beim Supermarkt-Beispiel zu bleiben: Im Sortiment sind nur Müsliriegel, die allesamt Spuren von Erdnüssen enthalten könnten.

Produktanbieter wiederum stehen vor der enormen Aufgabe, das Nachhaltigkeitsprofil ihrer Produkte nach den Vorgaben der komplexen Regulatorik zu erstellen und dieses anschließend auch noch für die unterschiedlichen Abfragesysteme ihrer Vertriebspartner aufzubereiten. Bei einigen Anlageklassen kommt noch als weitere Hürde hinzu, die geforderten ESG-Daten überhaupt in der geforderten Detailtiefe zu erfassen und kontinuierlich zu reporten.

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Damit die ESG-Abfrage ihr angestrebtes Ziel erreicht und mehr Kapital in nachhaltige Finanzprodukte lenkt, braucht es daher einheitliche Leitlinien für die Struktur der Nachhaltigkeitsprofile. Und zwar nicht nur für den Ablauf der Abfrage, sondern vor allem auch für das konkrete Wording der einzelnen Fragen und Antwortmöglichkeiten.

Marktstandard könnte Angebot steigern – und Akzeptanz beim Kunden 

Mit einem Branchenstandard, bei dem Emissionshäuser die ESG-Profile ihrer Produkte nach dieser einheitlichen Datenstruktur anlegen, würde zum einen das Übersetzen für die verschiedenen Systeme entfallen. Denn sobald klar ist, dass eine kritische Masse an neu aufgelegten Finanzprodukten diesem Standard folgt, dürfte auch der Druck auf Berater und Vertriebsgesellschaften steigen, ihre Abfrage-Tools an diese Struktur anzupassen.

Dem einmaligen Aufwand steht der langfristige Nutzen eines deutlich einfacheren „Matchings“ der ESG-Profile von Kunden und Anlageprodukten entgegen, da sich Berater und Vertriebsgesellschaften nicht mehr jedes Mal aufs Neue in unterschiedliche Strukturen hineindenken müssten.

Zum anderen könnte ein Branchenstandard für die Struktur der ESG-Profile langfristig auch den Absatz im Vergleich zu konventionellen Anlageprodukten steigern, so wie vom Regulator vorgesehen. Denn ein Marktstandard würde Produktanbietern die Konzeption nachhaltiger Produkte erheblich erleichtern – wodurch langfristig auch das Angebot schneller steigen dürfte.

Vor allem aber fiele es Beratern im Gespräch leichter, Kunden davon zu überzeugen, ihr Kapital verantwortungsvoll anzulegen, wenn diese am Ende der ESG-Pflichtabfrage auch wirklich ein Produkt empfohlen bekommen, das ihren Vorstellungen einer verantwortungsvollen Geldanlage entspricht.

 

In unserer Online-Beratungsplattform haben wir die Erfassung der Nachhaltigkeitspräferenzen für alle Produktpartner vereinheitlicht. Bislang sind wir vor allem im Sachwerte-Segment aktiv und decken damit nur einen kleinen Teil der Branche ab.

Deshalb haben wir uns dazu entschieden, die Datenstruktur für die ESG-Erfassung in einem Open-Data-Projekt zu veröffentlichen. Emissionshäuser, Vertriebsgesellschaften und andere Interessenten finden auf der Entwickler-Plattform Github alle Informationen, um die Datenstruktur zur Erfassung der ESG-Präferenzen in die eigenen Systeme und Softwarelösungen zu integrieren – kostenfrei unter einer Creative-Commons-Lizenz. Wer sich nicht durch die technische Dokumentation wühlen möchte, kann die Abfragelogik alternativ mit dem „ESG-Tester“ nachvollziehen, der ebenfalls im Open Data Projekts frei verfügbar ist.

Welche nachhaltigen Anlageprodukte überzeugen?

Der große Vorteil, wenn man den Marktstandard nicht auf ein bestimmtes Tool, sondern lediglich auf die Struktur der Abfrage bezieht: Berater und Vermittler könnten weiterhin die ihnen vertrauten Systeme und Software-Lösungen nutzen und nach Belieben personalisieren. Sie passen lediglich den Part mit der ESG-Abfrage an die standardisierte Struktur an.

In die Zukunft gedacht könnten Software-Lösungen und Systeme, die diesem Marktstandard folgen, die ESG-Daten auch anonymisiert austauschen, vergleichen und für Im- und Ex­porte bereitstellen. So ließe sich mit vertretbarem Aufwand ein facettenreiches Bild der ESG-Präfe­ren­zen von Anle­gern zeichnen:

  • Welche Umwelt-, Sozial- und Governance-Themen sind ihnen bei der Geldanlage besonders wichtig?
  • Wo legen junge Anleger den Fokus?
  • Welche ESG-relevanten Fragen werden von der Mehrheit der Anleger regelmäßig übersprungen?

Letzteres könnte der Regulator zum Beispiel zum Anlass nehmen, um die Verordnungen entsprechend zu verschlanken. Emittenten und Vertriebspartner wiederum könnten aus den Antworten ableiten, wie nachhaltige Anlageprodukte konkret ausgestaltet sein müssen, um Kun­den langfristig zu überzeugen.


Über den Autor:

Lars Gentz ist Geschäftsführer der Gesellschaft Walnut, einem Software-Entwickler von Finsales-Technologie. Das Unternehmen hat für die Online-Beratungsplattform für AIF und Vermögensanlagen Walnut Live ein Modul zur Mifid-II-konformen Abfrage von ESG-Präferenzen entwickelt und den Quellcode unter einer Creative-Commons-Lizenz frei zugänglich gemacht.

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