Volkswirt Henning Vöpel
Volkswirt Henning Vöpel
Ein Gespenst geht um in Europa: der Inflation Reduction Act der USA. Vordergründig soll er die amerikanische Wirtschaft von der Inflation entlasten. Doch tatsächlich handelt es sich um ein (gar nicht so) verkapptes industriepolitisches Programm großen Ausmaßes. Die Europäische Union (EU) reagiert nervös. Ursula von der Leyen hat in ihrer Rede in Davos auf dem World Economic Forum die europäische Antwort angekündigt: den Net-Zero Industry Act.
Doch die schleichende Deindustrialisierung der europäischen Industrie hat bereits eingesetzt. Anleger tätigen Direktinvestitionen wieder vermehrt in die USA. Günstige Energie, Risikokapital und technologische Offenheit machen das Land wieder zu einem attraktiveren Standort – und dies zu einem Zeitpunkt, an dem die nächste industrielle Revolution in ihre entscheidende Phase eintritt, nämlich in den Kampf um Investitionen und Innovationen, um Talente und Technologieführerschaft.
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Ein Gespenst geht um in Europa: der Inflation Reduction Act der USA. Vordergründig soll er die amerikanische Wirtschaft von der Inflation entlasten. Doch tatsächlich handelt es sich um ein (gar nicht so) verkapptes industriepolitisches Programm großen Ausmaßes. Die Europäische Union (EU) reagiert nervös. Ursula von der Leyen hat in ihrer Rede in Davos auf dem World Economic Forum die europäische Antwort angekündigt: den Net-Zero Industry Act.
Doch die schleichende Deindustrialisierung der europäischen Industrie hat bereits eingesetzt. Anleger tätigen Direktinvestitionen wieder vermehrt in die USA. Günstige Energie, Risikokapital und technologische Offenheit machen das Land wieder zu einem attraktiveren Standort – und dies zu einem Zeitpunkt, an dem die nächste industrielle Revolution in ihre entscheidende Phase eintritt, nämlich in den Kampf um Investitionen und Innovationen, um Talente und Technologieführerschaft.
Was jetzt verlorengeht, wird man kaum oder nur mit sehr viel Geld später wieder zurückholen können. Ein großes Missverständnis der Politik besteht darin, zu glauben, dass Industrien beliebig separierbar sind. Tatsächlich bilden sie komplexe Strukturen aus Infastrukturen, Ressourcen und Kompetenzen. Sie bilden sich ab in Forschungskooperationen, Arbeitsmärkten und Lieferketten.
Die Klagen der EU über den Inflation Reduction Act mögen verständlich sein, sie offenbaren jedoch ein strukturelles und mittlerweile schon bürokratisch-mentales Problem mit der Industriepolitik. Die EU täte gut daran, sich einzugestehen, dass die Regeln der neuen Globalisierung längst andere geworden sind. Industriepolitik ist Geopolitik mit anderen Mitteln. Nicht nur China spielt bereits nach den neuen Spielregeln. Es geht um nationale Interessen und geoökonomische Souveränität.
Die tieferen Ursachen für die sich anbahnende Misere der europäischen Wirtschaft liegen in zwei Punkten: Zum einen denken Amerikaner die Märkte und den Fortschritt viel größer als Europäer, was gerade in Zeiten von disruptiven technologischen Umbrüchen, in denen jahrzehntelange Standortvorteile plötzlich verlorengehen können, ein großer, wirtschaftskulturell verankerter Vorteil ist. Zum anderen ist die EU ist nach innen aufgrund der beihilferechtlichen Selbstfesselung institutionell nicht mehr zu Industriepolitik fähig und verliert nach außen seit Jahren schon mehr und mehr die industrielle Technologieführerschaft. Es ist daher zu befürchten, dass die europäische Antwort zu schwach ausfallen wird.
Industriepolitik wird in der Tradition der Ordnungspolitik sehr skeptisch gesehen – zu Recht und zu Unrecht. Denn es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen guter und schlechter Industriepolitik – die gute ist rechtzeitig, die schlechte zu spät. Eine zu späte Industriepolitik subventioniert dort, wo Strukturen bereits schwach sind, und schafft Abhängigkeiten zwischen Politik und Wirtschaft dort, wo der Wandel verschleppt wurde. Diese Form der Industriepolitik ist wettbewerbs- innovations- und zukunftsfeindlich. Gute Industriepolitik dagegen schafft neue Märkte und wird in diesem Sinne zu transformativer Angebotspolitik.
Industriepolitik besteht häufig darin, neue Infrastrukturen bereitzustellen. Der ökonomische Mechanismus ist simpel: Infrastrukturen verursachen bei ihrer Bereitstellung einmal hohe Fixkosten, senken aber bei jeder Nutzung die variablen Kosten der Unternehmen immens, wodurch für viele Unternehmen der Marktzugang erst möglich wird und Skalierung einsetzt.
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