Stuttgarter-Vorstandschef Guido Bader „BU bleibt das Premiumprodukt am deutschen Markt“
Laut aktuellen Untersuchungen der Deutschen Aktuarvereinigung wird bis zum Renteneintritt jeder Vierte mindestens einmal in seinem Arbeitsleben berufsunfähig. Ist das den Verbrauchern in Deutschland Ihrer Erfahrung nach ausreichend bewusst?
Guido Bader: Nein. Der Mehrheit der Bürger ist es ganz offensichtlich nicht bewusst, dass so viele Menschen zumindest zeitweise nicht mehr in ihrem bisherigen Beruf arbeiten können. Denn nach Daten des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft gab es im Jahr 2019 hierzulande nur rund 17 Millionen Versicherungsverträge, die gegen eine Invalidität absichern – bei über 45 Millionen Erwerbstätigen. Viele Menschen versichern zwar bereitwillig ihr Smartphone gegen mögliche Schäden, aber nicht ihre Arbeitskraft und damit ihre Existenzgrundlage. Der Grund hierfür ist ein allgemeines Problem – ähnlich wie in der Altersvorsorge, für die junge Leute in der Gegenwart auf Konsum verzichten müssen, um sich für...
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Laut aktuellen Untersuchungen der Deutschen Aktuarvereinigung wird bis zum Renteneintritt jeder Vierte mindestens einmal in seinem Arbeitsleben berufsunfähig. Ist das den Verbrauchern in Deutschland Ihrer Erfahrung nach ausreichend bewusst?
Guido Bader: Nein. Der Mehrheit der Bürger ist es ganz offensichtlich nicht bewusst, dass so viele Menschen zumindest zeitweise nicht mehr in ihrem bisherigen Beruf arbeiten können. Denn nach Daten des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft gab es im Jahr 2019 hierzulande nur rund 17 Millionen Versicherungsverträge, die gegen eine Invalidität absichern – bei über 45 Millionen Erwerbstätigen. Viele Menschen versichern zwar bereitwillig ihr Smartphone gegen mögliche Schäden, aber nicht ihre Arbeitskraft und damit ihre Existenzgrundlage. Der Grund hierfür ist ein allgemeines Problem – ähnlich wie in der Altersvorsorge, für die junge Leute in der Gegenwart auf Konsum verzichten müssen, um sich für die Zukunft ein Vermögen anzusparen: Ihre Arbeitskraft müssen die Menschen bereits dann versichern, wenn sie noch voll gesund sind und sich gar nicht vorstellen können, einmal krankheitsbedingt für mehr als ein halbes Jahr im Job ausfallen zu können. Dagegen hilft nur viel Überzeugungsarbeit.
Die müssten dann die Versicherungsvermittler leisten. Was können sie tun, um die Verbreitung von Berufsunfähigkeitsversicherungen zu steigern?
Bader: Zunächst einmal: Die Beratungsleistung der Versicherungsvermittler ist für eine höhere Verbreitung von Berufsunfähigkeitsversicherungen immens wichtig. Für den damit verbundenen Aufwand müssen sie auch entsprechend entlohnt werden. Und: Sie machen sich sicherlich nicht besonders beliebt bei ihren Kunden, wenn sie solch negative Themen wie die eigene Invalidität des Gegenübers ansprechen. Genau das müssen sie aber tun. Hierbei ist es auch extrem wichtig, darauf hinzuweisen, dass immer mehr Menschen in Deutschland wegen psychischer Erkrankungen berufsunfähig werden. Die Abwärtsspirale, die beispielsweise in eine Depression führen kann, ist mitunter gar nicht so schnell zu erkennen. Doch wenn der Antragsteller bereits bei einigen Therapiesitzungen war, ist es für den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung zu spät. Die schleichende Gefahr, eine psychische Krankheit zu erleiden, kann zwar jeden treffen. Insbesondere haben jedoch Frauen bis zu ihrem 40. Geburtstag – im Vergleich zu einer vorangegangenen Untersuchung der Deutschen Aktuarvereinigung vor 20 Jahren – heute ein um über 30 Prozent erhöhtes Risiko, berufsunfähig zu werden, insbesondere aufgrund psychischer Belastung.
Mit welchen Entwicklungen in der BU-Statistik rechnen Sie in den nächsten 20 Jahren, zum Beispiel infolge der Corona-Pandemie?
Bader: Von den Zahlen her können wir heute noch nicht sehr viel zu den langfristigen Folgen der Corona-Pandemie in der Berufsunfähigkeitsversicherung sagen. Denn es gibt noch zu viele Unbekannte. So kann es ja beispielsweise noch keine Langzeitdaten über das Krankheitsbild des sogenannten Long-Covid-Syndroms geben. Unter den typischen Beschwerden wie chronische Fatigue leiden zwar erschreckend viele Betroffene. Aber es ist noch völlig unsicher, ob die Symptome bei den meisten wieder abklingen oder zu einer dauerhaften Invalidität führen werden. Bei der Stuttgarter Lebensversicherung haben wir bis dato erst zwei Anträge auf eine Berufsunfähigkeitsrente erhalten, bei denen die Versicherten Long-Covid als Ursache angaben. Reißerische Berichte über vermeintlich massenhaft verweigerte BU-Leistungen oder Ablehnungen im Neugeschäft in der Corona-Pandemie basieren meiner Meinung nach daher kaum auf Fakten und sind eher unseriöse Spekulationen.
Eine zweite Unbekannte ist, inwiefern sich die vermehrte Arbeit im Homeoffice auf die BU-Statistik auswirken wird. Denn einerseits sparten sich viele Pendler während der Lockdowns die sonst üblichen Anfahrtswege im oft nervenaufreibenden Berufsverkehr. Andererseits waren viele Berufstätige vielfach doppelt belastet: Neben den familiären Pflichten – beispielsweise gegenüber Kindern beim Homeschooling – mussten sie auch ihre Arbeit von zu Hause schaffen. Das betrifft zunehmend Frauen, deren Erwerbstätigenquote in den vergangenen zwei Jahrzehnten von 57,7 auf 72,8 Prozent gestiegen ist. Derzeit folgt knapp jeder dritte BU-Leistungsfall laut dem Analysehaus Morgen & Morgen auf psychische Erkrankungen.
Das wird oft auf eine veränderte Arbeitswelt zurückgeführt. Kalkulieren Sie mit immer mehr psychischen Störungen durch die zunehmende Digitalisierung im Berufsleben? Oder eher mit Entspannung durch steigenden Einsatz von Künstlicher Intelligenz, die uns monotone Arbeiten abnimmt?
Bader: Bislang haben wir eine sehr auffällige Entwicklung hin zu mehr psychischen Krankheiten als wichtigste Ursache für Fälle von Berufsunfähigkeit gesehen. Wie es in der Zukunft damit weitergeht, lässt sich aus den Daten natürlich nicht herauslesen. Ich hoffe aber, dass es einen Trendwechsel geben könnte. Positiv stimmt mich hierbei das Lebensmotto vieler Angehöriger der sogenannten Generationen Y und Z: Die heutigen Berufsstarter legen oftmals viel Wert auf ihr Wohlbefinden. Sie achten daher auf die Prävention von Krankheiten, wollen bewusst und gesund leben. Trotzdem halte ich höhere Sicherheitszuschläge der Versicherer, wie sie die Deutsche Aktuarvereinigung insbesondere aufgrund psychischer Erkrankungen in die neuen BU-Tafeln einkalkuliert hat, für unerlässlich. Denn die Daten zeigen, dass die Betroffenen sehr oft dauerhaft invalide sind. Im Gegensatz zu manch anderen BU-Ursachen können die Patienten nach psychischen Erkrankungen nur in seltenen Fällen wieder arbeiten.
Bei der Grundfähigkeitsversicherung fehlt der Schutz bei psychischen Leiden in vielen Tarifvarianten. Für welche Kundengruppe kann sie trotzdem eine Alternative darstellen?
Bader: Die Grundfähigkeitsversicherung klammert in den meisten Produkten zwar eine sehr wichtige BU-Ursache für Bürokräfte aus. Aber bei den vorwiegend körperlich arbeitenden Berufstätigen ist in der Regel so gut wie alles abgedeckt, was bei ihnen zu einer Erwerbsunfähigkeit führen kann. Damit können beispielsweise Handwerker für einen bezahlbaren Preis ein gutes Produkt erhalten, um ihre Arbeitskraft finanziell abzusichern. Für sie ist eine Grundfähigkeitsversicherung also eine sinnvolle Alternative zu einer Berufsunfähigkeitsversicherung, die für sie teilweise unerschwinglich erscheint.
Ich denke, dass diese beiden Produktgruppen, BU und Grundfähigkeit, den deutschen Versicherungsmarkt auch künftig dominieren werden. Dabei dürfte die Berufsunfähigkeitsversicherung das Premiumprodukt bleiben, das sich leider nicht jeder Interessent leisten können wird. Wichtigstes Alternativprodukt dürfte die Grundfähigkeitsversicherung bleiben. Die Erwerbsunfähigkeitsversicherung hingegen konnte sich am deutschen Markt noch kaum etablieren und die Dread-Disease-Police bietet mit ihrer Einmalzahlung im Krankheitsfall zwar eine erste finanzielle Hilfe, aber eben keinen Ersatz für ein dauerhaft wegfallendes Einkommen.
Über den Interviewten:
Guido Bader trat zum 1. Juni als Nachfolger von Frank Karsten an die Spitze des Vorstands der Stuttgarter Versicherungsgruppe. Neben seinem Vorstandsamt bei dem Lebensversicherer führte der Versicherungsmathematiker bis zum Frühjahr die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV), deren Vorstand Bader weiterhin als Past President angehören wird. Neuer DAV-Chef ist Herbert Schneidemann, Vorstandsvorsitzender Versicherungsgruppe Die Bayerische.