Ökonomen kommentieren die Europawahl Keine Katastrophe – aber bedenkliche Folgen im Anflug
Auch Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, zeigt sich einerseits erleichtert darüber, dass weniger Stimmen als befürchtet an politisch extreme Parteien gegangen sind. Der befürchteten Schocks sei ausgeblieben. Andererseits schrieben sich mit dem Ergebnis jetzt einige problematische Trends weiter fort. „Es wird in der EU noch schwieriger, Mehrheiten zu finden“, bedauert Krämer. Diese Situation hätten viele Investoren zwar im Voraus eingepreist. Trotzdem seien die uneindeutigen Mehrheitsverhältnisse eine Belastung für die anstehenden Handelsgespräche mit den USA. Mit potenziell unangenehmen Folgen für die Europäische Union: „Ich erwarte mehr denn je, dass die USA am Ende Autozölle ankündigen werden, um Bewegung in die Handelsgespräche zu bringen“, befürchtet der Wirtschaftsprofi. Langfristziele der Europäischen Union rückten nach den jüngsten Wahlen in die Ferne: „Gemeinsame Einlagensicherung oder ein gemeinsamer Haushalt sind kaum mehr durchsetzbar.“ Sorgen bereitet Krämer die Situation in Italien. Der Haushaltsstreit zwischen Italien und der EU dürfte erneut hochkochen, ist Krämer überzeugt. Der Ökonom glaubt, dass die EU sich dann erneut auf einen „faulen Kompromiss“ einlassen und dem südeuropäischen Mitgliedsstaat einmal mehr höhere Staatsausgaben als eigentlich vorgesehen durchgehen lassen könnte.
Verwundert ob der Reaktionen auf den jüngsten Wahlausgang zeigt sich Chefvolkswirt der Targobank Otmar Lang: „Die politischen Unwägbarkeiten sind für Anleger offenbar zum Normalzustand geworden.“ Da sich die Risiken kaum mehr zuverlässig kalkulieren ließen, zeigten sich Investoren von Unsicherheiten zunehmend unbeeindruckt. Marktschwankungen aufgrund politischer Ereignisse seien, kaum dass sie aufträten, auch schon wieder ausgebügelt. „Die Gelassenheit, die die Börse an den Tag legt, ist schon bemerkenswert“, wundert sich Lang. In Anlehnung an eine bekannte Börsenweisheit folgert der Ökonom: „Politische Börsen haben offenbar gar keine Beine mehr“ – politische Ereignisse würden von Investoren mittlerweile also schon weitgehend ignoriert.
Einen dringenden Wunsch äußert Clemens Fuest: Europa solle nach innen wie nach außen geschlossener handeln, fordert der Präsident des Münchner Ifo-Instituts. Die EU solle vor allen bei den Themen Migration, Sicherheitspolitik und Entwicklungshilfe enger zusammenarbeiten. Da gegnwärtig nicht alle Teile Länder gleichermaßen zum Zusammengang bereit seien, sollte der Staatenbund flexibel vorgehen. Einige Staaten sollten bei der angepeilten Zusammenarbeit die Vorhut bilden, andere könnten „später dazu stoßen“, so Fuest. Gerade gegenüber den Großmächten China und den USA müsse Europa als Einheit auftreten, fordert Fuest. Vor allem die italienische Regierung müsse von den Vorteilen überzeugt werden.